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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer
Autoren: Burkhard Driest
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herunterziehen, damit ich nicht schon wieder Mittelohrentzündung bekäme.
    Als meine Mutter sie mir aufsetzte, schob sich die Kante über meine Augen, und ich stand im Dunkeln. Sie lachte, und weil ich kreischend protestierte, fasste sie sie mit beiden Händen zugleich hinten und am Schirm und stellte sie schräg gen Himmel, so wie der Jauchefahrer Kalle von Gut Drewitz sie trug. Ich kannte ihn, wir Kinder ärgerten ihn, aber er machte kein Hehl daraus, dass ihm die Verachtung der anderen schnuppe war.
    In Wahrheit war es keine Verachtung, denn niemand dort blickte auf den anderen herab. Das galt auch für die Eigner Major Albrecht Friedrich von Roxin und seine Frau Elisabeth, die jedem auf dem Gut Respekt erwiesen. Ich nannte sie Onkel Albi und Tante Sissi. Bei ihr kam noch Liebe hinzu, die Onkel Albi sich eher für seinen Zuchthengst und die zwei Stuten aufbewahrte oder für die Jagd oder Fürst Bismarck, den er verehrte und an den ein großes Gemälde in seinem Büro erinnerte. Nichts war der Verachtung wert, und so klein auch die Geschäfte unter den Gutsarbeitern waren, es gab nicht den kleinlichen Geschäftsgeist, so wie es auch die Gemeinheit und die Dummheit nicht gab, die sich aus der Sicht der Roxins in der Partei und der Politik eingenistet hatten.
    Dennoch wollte ich weder durch den Sitz der Mütze noch durch sonst etwas in Kalles Nähe gerückt werden, schon gar nicht am Vortag meiner Geburtstagsfeier. Auch wenn alle in mir noch ein Kind sahen, eines Tages würde ich ein Mann sein, ein Soldat, und die trugen die Skimütze, wenn sie denn zur Uniform gehörte, ein wenig schräg nach rechts, im Schirm geknickt, knapp über den Augen, sodass diese im Schatten lagen, wenn eine Lichtbombe oder eine Blitzgranate sich über ihnen in der Luft entzündete. Von meinem Freund Paul wusste ich, dass das im Krieg jederzeit der Fall sein konnte und daher die Augen stets gut zu schützen waren.
    Es war schon dunkel. Ich stand nah an den Gleisen und beugte mich vor, um die zwei Lichter der Lokomotive in der Kurve als Erster zu sehen.
    Ein kalter Wind blies mir entgegen. Geh nicht so nahe ran, sonst kommst du noch unter den Zug!, hätte Tante Kläre gesagt, aber meine Mutter kümmerte sich nicht darum, sie war nur damit beschäftigt, sich ihre Zigarette anzustecken, obwohl es sich damals für eine Dame nicht schickte, draußen zu rauchen. Das waren Dinge, die man jederzeit von meinem Vater hören konnte, wenngleich sich meine Mutter nicht darum scherte. Selbst seine schärfsten Ermahnungen verdarben ihr kein einziges Mal die Laune. Einmal lachte sie ihn aus und sagte: »Nur die Zigarette ist draußen, der Rauch ist ja innen«, inhalierte besonders tief und machte mit ihrer Zigarette eine großartige Bewegung durch die Luft.
    »Deine Mutter lässt sich nicht von einem Uhrmachersohn einschüchtern, auch wenn der Uhrmacher sein Haus am Marktplatz in Gollnow hat und im Stadtrat sitzt«, war Tante Lieschens Kommentar, als ich ihr meine Beobachtung berichtete. Tante Lieschen war die Schwester meiner verstorbenen Großmutter und gehörte zum bürgerlich-liberalen Holzgroßhändlerzweig der Familie, nicht zu den deutschnationalen Uhrmachern.
    Aus der Ferne kam ein lang gezogenes Tuten, ich wurde ganz aufgeregt, sah die zwei kleinen Punkte, die sich schnell zu großen Lichtern ausdehnten, und als der Zug mit viel Schnaufen und Getöse in den Bahnhof einlief, tutete er noch ein paar Mal, zischte und stampfte, die Kolben drehten rückwärts, die Eisenräder blockierten, rutschten weiter, sprühten Funken. Jedes Mal faszinierte mich dieses Ereignis in seiner ganzen pompösen Orchestrierung. Kerzengerade stand die Wasserdampfsäule über dem Schornstein, vom Rückenwind gestützt, doch als die eiserne Raupe noch einmal röhrte und schnaubte, kippte die weiße Säule um und hüllte alles ein. Hinter diesen Schleiern mühte sich das schwarze Ungetüm an mir vorbei.
    Hektisch suchte ich Papa an allen Fenstern, an allen Türen, die sich überall schon vor dem Stopp öffneten, doch der weiße, über den Bahnsteig kriechende Qualm der Lokomotive verdeckte die Ankommenden. Gebannt stand ich da und kam erst wieder zu mir, als meine Mutter rief: »Da hinten ist er, wir gehen ihm entgegen!«
    Ich ergriff ihre Hand, und als wir drei Schritte von ihm entfernt waren, schüttelte sie meine Hand ab, er stellte den Koffer nieder, und sie flogen sich in die Arme.
    Es dauerte. Ihre Umarmung erschien mir eine Ewigkeit, in der es mich nicht gab. Ich
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