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Wenn Es Dunkel Wird

Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Wenn Es Dunkel Wird
Autoren: Manuela Martini
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solchen sogenannten Extremsituation ausgesetzt zu werden! Da lernt man sich kennen. Wie man unter Druck reagiert. Ihr solltet mir wenigstens ein bisschen dankbar sein!«
    Wieder sagte niemand etwas. »Klatschen könntet ihr wenigstens.«
    »Du?«, fing ich mit zittriger Stimme an. Ich klang ganz fremd in meinen Ohren. »Du hast die ganze Sache inszeniert? Die Mails? Das Video?«
    Ich musste etwas missverstanden haben, oder?
    Claas schüttelte amüsiert den Kopf. »Da haben dir deine ganzen guten Noten in der Schule nicht geholfen, oder? Mel, du musst zugeben, du bist ganz schön in Panik geraten.«
    Es wurde still, ganz still, und dann hob er mit lauter Stimme an: »Wer von uns hat schon den Mut, seinen eigenen Weg zu gehen?«
    Ich erinnerte mich an die Zeilen von Henry Paige.
    »Von klein auf wird unser Wille von Autoritäten, seien es die Eltern oder Lehrer, gebrochen. Wir werden gleichgemacht, das Individuelle wird uns ausgetrieben. Wir haben zu funktionieren und oft Lehrern zu gehorchen, denen es oft selbst an Wissen und Weisheit mangelt!«, zitierte er auswendig. »Julian, sag selbst, fühlst du dich nicht genau so? Was macht dein Vater mit dir? Lässt dir von mir Mathe eintrichtern, weil er glaubt, du musst so werden wie er, oder nicht?«
    Julian sah ihn schweigend an, mit zusammengekniffenen Augen.
    Claas redete unbeeindruckt weiter. »Und so vergessen wir, wer wir eigentlich sind, welche Talente und Kräfte in uns schlummern!« Er kam mir vor wie ein Schauspieler auf einer Bühne in einem voll besetzten Theatersaal. Uns hatte er zu seinem Publikum erkoren und wir hatten gefälligst sitzen zu bleiben und zuzuhören.
    »Und du, Tammy«, machte er weiter, »nur weil dich alle schön finden, denkst du, du musst Model werden?« Er stand nun dicht vor ihr und Tammy saß stocksteif auf ihrem Platz. »Weißt du überhaupt, wer du in Wirklichkeit bist?«, sprach er weiter. »Was da eigentlich ist, ganz tief in dir drin?« Er schlug sich auf sein Herz. »Da, ganz tief drin?«
    Er strich Tammy leicht über die Wange. Und Tammy ließ es geschehen, saß einfach nur bewegungslos da und schluckte.
    Und er machte weiter, lauter, leidenschaftlicher noch. »Denn wüssten wir dies«, verkündete er inbrünstig, »würden wir uns gegen die Herrschenden wenden, würden sie von ihrem Thron stoßen, auf den sie glauben, ein Anrecht zu besitzen.« Sein Blick wanderte zu mir und er grinste. »Genau, das ist für dich Mel. Dolmetscherin? Wie kamst du nur auf so eine bescheuerte Idee? Du kannst doch viel mehr, als das Geschwätz von einem Idioten für einen anderen Idioten in eine andere Sprache zu übertragen! Mach doch endlich die Augen auf! Du kannst die Welt bewegen, Mel! Du willst dich am liebsten immer hinter dem Geschwätz von anderen, dem bereits Gesagten verstecken – ja, das tust du nur zu gern. Für ein gutes Abi reicht das ja vielleicht, aber dann?!«
    Warum tat er das? Warum musste er jeden so entblößen? Ich wollte Dolmetscherin werden, ja, aber weil ich in New York leben und interessante Leute kennenlernen, weil ich am Weltgeschehen teilhaben wollte, weil … weil ich mir nicht zutraute, das Weltgeschehen mitzubestimmen? War es wirklich so?
    »Was gibt es Schlimmeres«, fuhr er fort, »als am Ende des Lebens auf all die ungelebten Träume und Visionen zurückzublicken, die wir in unserer Jugend vielleicht einmal hatten?«, sprach er mit Pathos weiter. Hatte so auch Henry Paige zu seinen Anhängern gesprochen? »Mel, du kennst meine Eltern. Du kennst unsere mickrige Wohnung. Meinem Vater sieht man den Loser schon von zehn Kilometern Entfernung an. Was ist er? Ein schlecht bezahlter Bürokrat! Und wisst ihr, was er einmal werden wollte?«
    Unter seinem intensiven Blick schüttelte ich mechanisch den Kopf.
    »Ägyptologe!« Er verfiel in ein gellendes Lachen. »Er hätte am liebsten ein Museum geleitet oder irgendein Pharaonengeheimnis gelüftet! Aber Beamter ist er geworden, Aktenschieber. Ich sage euch daher: Erobern wir uns unsere Stärke wieder zurück, mit der wir einst geboren wurden! Leben wir nach unseren eigenen Gesetzen. Lassen wir uns nicht vorschreiben, wen wir lieben dürfen! Wer außer uns selbst weiß und fühlt, wen er wirklich liebt.« Sein Blick blieb an Tammy haften. »Wer außer uns selbst«, wiederholte er leise und suchte ihren Blick, »weiß, wen er wirklich liebt?«
    Ich bekam eine Gänsehaut bei seinen letzten Worten. Wohin sollte das alles führen? Tammy reagierte nicht, starrte auf ihre Hände,
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