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Wenn Es Dunkel Wird

Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Wenn Es Dunkel Wird
Autoren: Manuela Martini
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    Heute, am 27. Juli, wurde bei YouTube unter dem Usernamen melkri01 ein mehrteiliges Video hochgeladen. Der letzte Teil vor einer halben Stunde.
    Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits sechshundertzwölf Viewer gezählt. Vielleicht liegt das an dem hübschen Mädchen mit den Sommersprossen, der blassen Haut, dem rötlich blonden Haar und den intensiven Augen. Es sind die Augen, die den Betrachter nicht loslassen. Sie blickt ihn daraus an, als scheine die Sonne zu hell. Aber heute ist es düster.
    Sie ist etwa achtzehn oder neunzehn. Sie trägt ein grünes Kapuzenshirt und sitzt offenbar auf einem Stuhl an ihrem Schreibtisch. Vor ihr steht ein Glas mit Wasser. Im Hintergrund ist eine rötlich tapezierte Wand mit einem Poster zu sehen. Das Motiv ist aus der Entfernung nicht zu erkennen. An die Wand stößt ein Bett mit einer in verschiedenen Rottönen gehaltenen Tagesdecke.
    Sie räuspert sich mehrmals, greift nach vorn, richtet offenbar das Notebook mit der Kamera aus, streicht sich mit einer nervösen Bewegung das glatte Haar zurück.
    Man fragt sich, was sie zu sagen hat. Dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat?
    Sie räuspert sich wieder, der Blick aus ihren schmalen Augen wird intensiver. Spätestens jetzt können die meisten wohl nicht mehr wegklicken. Ihre Stimme klingt rau und zittert, als sie zu sprechen anfängt.
    Also, ich weiß nicht, wer mir zuschaut. Ich sag es dir gleich vorweg: Ich hab das alles nicht gewollt. Es ist passiert, irgendwie hat es sich nicht aufhalten lassen. Es war wie … wie wenn man sich aus Langeweile entscheidet, in irgendeinen Zug zu steigen, einfach so, und man hat nicht auf der Anzeige gelesen, dass da HÖLLE steht.
    Es ist jetzt fast ein Jahr her und anfangs hab ich geglaubt, irgendwann hört man auf, daran zu denken, und vergisst. Aber das stimmt nicht. Ich habe jeden Tag daran gedacht. Und als auch noch diese Mail kam – danach wurde es dann ganz schlimm. Sobald ich die Augen zugemacht habe, war da sein Gesicht. Ich habe nicht mehr geschlafen. Und manchmal bin ich aufgeschreckt und meine Mutter stand vor mir, weil ich geschrien habe.
    Ich konnte ihr nicht davon erzählen, denn dann hätte ich ihr alles verraten müssen.
    Claas meinte, ich müsste unbedingt die Nerven behalten und mich entspannen.
    »Wir haben ein Geheimnis, Mel«, sagte er, »und wir müssen dichthalten. Jeder Einzelne von uns.«
    Und dann fügte er noch hinzu: »Du weißt, dass ich mich nach dem Abi in Oxford für Wirtschaft, Politik und Philosophie bewerben will.«
    Ich sollte ihm sein Leben nicht verbauen. Das hab ich verstanden.
    Jedenfalls konnte ich seitdem nicht mehr richtig schlafen, dem Arzt hab ich erzählt, es ist die Angst vor den Abi-Prüfungen.
    Er hat mir Tabletten verschrieben. Ab und zu hab ich sie genommen, weil ich’s nicht mehr ausgehalten habe, wie ein Zombie durch die Welt zu stolpern.
    Im Café Theatiner in der Fußgängerzone, in dem ich bis vor ein paar Wochen gejobbt habe, ist mir schon x-mal Geschirr vom Tablett gerutscht, ich habe Gläser beim Abtrocknen zerbrochen, ich bin über die Teppichläufer zwischen Kuchenbuffet und Küche gestolpert, habe völlig falsch rausgegeben, meine Monatskarte für die U-Bahn vergessen und im Unterricht – vor dem Abi – bin ich ständig eingeschlafen. Bin einfach für Sekunden oder Minuten weg gewesen. Tests hab ich total in den Sand gesetzt und bei einem Referat hatte ich sogar ein komplettes Blackout. Was mir sonst niemals passiert ist, ich bin nämlich das, was man eine Einserkandidatin nennt. Von den Albträumen will ich gar nicht reden.
    Meinen Eltern hab ich vorgemacht, dass es mit dem Abi zu tun hat, ja, dass ich wohl plötzlich so was wie Zukunftsangst gekriegt habe. So ganz haben sie es nicht geglaubt, jedenfalls sieht mich meine Mutter seitdem öfter von der Seite an und hat nebenbei was von Schwangerschaft fallen lassen und dass ich mit ihr über alles reden könne. Ich hab an meiner Ausrede festgehalten.
    Ja und nach der Mail wurde es natürlich nicht besser.
    Deshalb hab ich beschlossen, das hier zu tun.
    Irgendwie fühle ich mich damit schon ein wenig erleichtert, obwohl ich weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt.
    Das war jetzt alles ziemlich durcheinander. Aber ich … na ja, ich bin ein bisschen nervös, du verstehst auch sicher bald, warum.
    Warum ich nicht zur Polizei gehe, stimmt, das wollte ich noch erklären. Ich glaube, die ist bloß an Beweisen und Tatwaffen interessiert. Am Ende ist es denen egal, warum etwas
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