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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot
Autoren: Elisabeth Rapp
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sehe vorne neben der ersten Sitzreihe ein ausgestrecktes Bein in schwarzen Hosen und einen schwarzen Schnürstiefel.
    Wieder auf meinem Platz wische ich mir mit dem Ärmel die Tränen ab. Jenseits des Polarkreises wird alles anders, hab ich gehofft. Ich hoffe es immer noch.
    Beim Landeanflug auf Ivalo entschuldigt sich Captain Koponen für den Zwischenfall. Ein anderes Flugzeug, zu dicht über uns, habe unseren Weg gekreuzt.
    Ich hör nicht hin, will es nicht wissen. Ich lebe ja noch. Und bin immer noch total traurig.

2
Die Maßnahme
    Die erste Station der Maßnahme ist die Baustelle des weltberühmten Aurora Linna Icehotels. Sobald die Temperaturen konstant unter null liegen, wird es aufgebaut, kurz vor Weihnachten eröffnet, im Juni schmilzt es und fließt in den Inarisee. Das zukünftige Eishotel liegt auf dem Weg zur Jugendherberge aus Eis, die wir bauen sollen. Unser Bus hält nördlich von Nellim auf noch schnee- und eisfreiem Gelände am westlichen Ufer des Inarisees.
    »So, alle aussteigen und rein in die Ausstellungshalle. Alle. Ja, du auch.«
    Ich halte mich im Hintergrund und schaue mir möglichst unauffällig die Bilder des letzten, mittlerweile dahingeschmolzenen Eishotels an: eine Rezeption aus glasklarem Eis, Traumgebilde, schimmernde Räume in Blautönen, der Palast der Eisprinzessin.
    »Aufschließen! Komm schon, Tilly! Hopphopp!«
    Alle drehen sich um und starren mich an. Ich hasse das.
    Genauso, wie ich die offensichtlich misstrauische Hast hasse, mit der wir vom Bauleiter und den Betreuern durch die zukünftige Eingangshalle und die Wodka-Bar, das Polar-Kino und die Suiten geschleust werden, von denenbis jetzt nur bizarre Stützkonstruktionen zu sehen sind. Da sie wissen, dass wir nicht die elf Besten von Jugend forscht und/oder musiziert sind, nehmen sie wohl an, wir würden uns die herumliegenden Bretter unter den Nagel reißen wollen.
    Es ist dunkel. Die Baustellenbeleuchtung leuchtet nur einen Teil aus. Wir stolpern, rutschen, motzen.
    »Bisschen schneller, wenn ich bitten darf. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
    Es herrschen grimmige Minusgrade. Wir sind zu dünn angezogen und die Piercings und Tattoos wärmen unsre Ohren, Nasen und blauen Lippen nicht. Vereinzelte Proteste über den Schweinsgalopp gehen in Zähneklappern über. Auf dem Weg zum Bus verstummt auch das.
    Die Landschaft ist in grünes Polarlicht getaucht, in das vom Himmel gebündeltes, violettes Licht herabfällt. Meine Augen brennen, und ich blinzle heftig die Tränen weg.
    »Nie im Leben bau ich mitten in ’ner giftigen Weltallsuppe ’n Rieseniglu«, stellt ein endlos langer dünner dunkelhaariger Typ fest, schlotternd vor Kälte.
    »Es steht dir frei, zurück zum Flughafen zu latschen. Flieg heim, dann wärt ihr nur noch zehn«, sagt Michael Beck, der Sozialpädagoge, und knipst ungerührt das Farbenspiel. »Niemand zwingt dich zu deinem Glück, Paolo.«
    Die Art von Sprüchen hat jeder in der Gruppe tausendmal gehört. Zur Kälte gesellt sich Wut. Alles klar, also nicht nur Paolo und ich haben frei zwischen der geschlossenen Jugendpsychiatrie und dieser Wahnsinns-Maßnahme wählen dürfen, sondern Lars, Cem, Sam, Nils und Ben auch. Sandra, Vanessa und Jana hat Beck ebenfallsaufgezählt. Die Mädchen enden alle schön auf A, bis auf mich. Y. Das wären dann zehn. Einer fehlt noch. Keinen Schimmer, wer von denen wer ist, bis auf …
    Paolo steigt als Erster in den Bus ein. Ich als Letzte.
    Die miese Stimmung ist mit den Händen zu greifen.
    Knister, knister. RATTA-BUMM! Gleich gibt’s ’ne Keilerei. Becks Spruch hat allen restlos die Laune versaut. Gewaltbereitschaft liegt in der Luft. Ich bin wieder hellwach.
    Zwei Mädchen vorne links, beide extrem blond, sehen mich kurz an und wechseln einen Blick.
    Dahinter ein aufgepumpter Typ mit viel Metall im Gesicht, Glatze, Muskelfreak, kratzt sich im Schritt.
    Rechte Seite, zwei Kerle hintereinander in Street-Gang-Klamotten. Einer puhlt an seiner Akne.
    Reihe weiter links, tätowierte Glatze, hebt eine Augenbraue. Extrem angespannt.
    Rechts spuckt ein Dicker auf den Gang, verfehlt mich knapp. »Is was? Weitergehen, hopphopp. Such dir ’n Stuhl.«
    Mädchen links, lange, feine dunkelblonde Haare, kuckt durch mich durch.
    Auf die hintere durchgehende Bank gefläzt, Paolo. Beine auf rechtem Vordersitz.
    Der Sitznachbar zu Paolos Füßen hat halblange Haare und die Augen zu.
    Ich schiebe mich an den Sitzreihen vorbei. Alle sehen, dass ich alles sehe, obwohl mein Blick
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