Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot
Autoren: Elisabeth Rapp
Vom Netzwerk:
was Riski sagt: »Aurora borealis. Das Polarlicht hat heute die Wintersaison eröffnet. Das ist früh. Vermutlich will euch die Sonne in meiner Heimat begrüßen. Ihr wisst, dass Polarlicht entsteht, wenn geladene Teilchen des Sonnenwindes auf die polare Erdatmosphäre treffen.«
    An unseren hohlen Blicken erkennt Riski, dass wir noch nie von Sonnenwinden gehört haben.
    »Also, willkommen. Am fünfzehnten Dezember wird die Jugendherberge eröffnet. Das steht fest. Alles andere hängt vom Wetter und von euch ab. Jeder kriegt zwei Thermoanzüge. Morgen früh um acht ist Baubesprechung. Es gibt zwei viertelstündige Kaffeepausen, eine um zehn Uhr und eine um drei. Mittagspause ist von zwölf bis halb eins und um fünf ist Schluss. Falls ihrnicht ordentlich anpackt, muss ich Arbeiter aus Ivalo dazuholen. Dann wird’s richtig eng, weil die auch hier übernachten müssen. Verstanden?«
    In meinem Kopf dröhnt es, Becks Übersetzerstimme klingt hohl und dünn, dann reißt sie ab und mir kommt schlagartig die Tischplatte entgegen.
    Super Einstand! Tilly braucht Riechsalz!
    Das Geschrei legt sich erst, als Riski und Tonberg das Essen austeilen. Beck drückt mir ein kaltes Tuch gegen die Stirn.
    »Aua«, ich schiebe seine Hand weg und sehe eine Blutlache. Meine Nase blutet. Ich kann das nicht aufwischen. Blut tropft auf mein T-Shirt und meine Jeans. »Bitte! Ich muss raus!« Ich spür meine Beine nicht. Panik! Ich kann nicht weg.
    »Hast du was gesagt?«, fragt Beck und haut mir mit der flachen Hand mehrmals auf die Backe.
    Ich schüttle den Kopf und versuche, Luft in meine Lungen zu kriegen.
    »Willst du dich hinlegen?«
    Da kein Ton kommt, nicke ich. Normalität herstellen! , kreischt es in meinem Innern. Beck zieht mich hoch. Ich stehe. Gott sei Dank, ich kann gehen.
    »Soll ich mitkommen?«, fragt Sandra.
    »Iss du lieber was«, sagt Tonberg. »Ein Schwächeanfall reicht.«
    Beck packt mich unterm Arm und schleift mich zur Tür.
    »Zieht die ’ne Show ab«, sagt Vanessa und erntet zustimmendes Grinsen von Cem und Akne-Sam.
    Draußen in der Kälte, im Polarlicht, krächze ich: »Muss auch was essen.«
    »Leg dich erst mal hin, bis dein Kreislauf stabil ist. Ich bring dir was rüber.«
    »Tut mir leid«, murmle ich und stelle Normalität her. »Hab zu wenig gegessen unterwegs. Die Aufregung, die Hitze.«
    Beck sieht mich forschend an. Es steht ihm in Großbuchstaben auf der Stirn geschrieben, dass er mich zurückschicken will. Er denkt, ich pack das nicht, mach Probleme.
    Also hol ich tief Luft und sage: »Das tut gut. Geht schon viel besser.«
    Im Container wasche ich mich und stopfe mir Klopapier in die Nasenlöcher. Die Jeans und das versaute Shirt schmeiß ich in den Abfall und zieh den Trainingsanzug über. Ich hau mich hin, schluchze kurz. Dann springe ich auf und warte an der Tür. Der Soz. Päd. soll mich nicht im Bett sehen.
    Schon wird die Tür aufgerissen. Nach einem Rundumkontrollblick reicht Beck mir das Laken und einen Teller.
    »Danke.«
    Beck sieht mich nicht an, fischt meine Klamotten aus dem Abfall, schüttelt den Kopf und seufzt: »Es gibt hier auch eine Waschmaschine.«
    Soll ich noch mal Danke sagen? Ich sag »gut« und starre meine Füße an.
    »Komm rüber, wenn dir danach ist.«
    Mir ist nicht danach. Ich bin froh, allein zu sein. Zwischen Vanessas Spind und der Wand finde ich ein Versteck für meine vier prallvollen Panikbücher. Sie haben Din-A4-Format, sind schwarz gebunden, vollgeklebt, vollgekritzelt. Jedes Jahr eins, 2009–2012. Niemand darf siejemals in die Finger kriegen, deshalb hab ich sie mitgenommen. Im Heim wühlt jeder in den Sachen der Anderen rum, hier hundertpro auch. Spätestens morgen filzen meine Mitbewohnerinnen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Container. Sandra wird sich auf meinen Bereich konzentrieren, das ist klar. Vanessa und Jana werden zusammen schnüffeln. Natürlich bei Sandra und mir und nicht bei sich selbst. Mein aktuelles Panik-am-Polarkreis-Buch bleibt in der Tasche, da ist es sicher. Ich brauch den Zugriff. Sollten sie mein Versteck entdecken, wäre es das Ende. Eine Katastrophe. Ich wäre bis zum Ende der Maßnahme die Durchgeknallte von Container 6.
    Als alle pennen, gehe ich runter zum Fluss, dem Paatsjoki. Er ist sehr breit. Nicht weit flussaufwärts auf der anderen Seite ist die russische Grenze. Es ist absolut still. Kein Flugzeug, kein gar nichts. Das Nichts ist so still, dass ich meinen Herzschlag höre  – mit meinen Ohren! Dann Getöse,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher