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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot
Autoren: Elisabeth Rapp
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Wolkenmeer
    Am Rand der Erde verwandelt sich die Sonne in ein kosmisches Spiegelei. Das Eigelb flammt auf. Es wirft eine Blase, verfärbt sich orange, dann blutrot und versinkt im Wolkenmeer.
    BLUBB.
    Ein echtes Spektakel, mein erster Sonnenuntergang über den Wolken. Draußen macht der Letzte das Licht aus. Dunkelheit triumphiert über Licht und meine Nerven liegen blank. Bisher bin ich nur mit dem Finger im Diercke Weltatlas über die gestrichelte Linie in 66,56° nördlicher Breite gereist. Der Polarkreis. Jetzt liegt er neuntausend Meter unter mir. Ich stelle ihn mir als Dornenkrone aus eisfunkelndem NATO-Draht vor, der tief in die kalte Stirn der Erde gedrückt ist. Mit dem Kuli kritzle ich ihn auf die Sicherheit-an-Bord-Karte. Einen Kreis drumherum, Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das traurige Erdengesicht. Es erinnert mich an meins, bloß in rund.
    Polarkreis, allein das Wort klingt kalt.
    Wir fliegen noch weiter nordwärts nach Ivalo. Da soll es Mitte September zweieinhalb Sonnenstunden am Tag haben und unter null Grad sein. Tendenz fallend. Im Oktoberscheint die Sonne zwei Stunden lang, im November satte 0,4 und im Dezember gar nicht mehr.
    Die Maßnahme dauert vierzehn dunkle, kalte Wochen. Deshalb flippe ich über den Wolken auch nicht vor Begeisterung aus. Ich bin auf dem Weg in ein sibirisches Straflager oder Bootcamp, wem das besser gefällt. Die offizielle Bezeichnung lautet: EPM  – »Erlebnispädagogische Maßnahme zur Entwicklung von Schlüsselqualifikationen wie soziale Kompetenz und Persönlichkeit«.
    Kälte, Einsamkeit, harte Arbeit und eine elfköpfige Gruppe von Gestörten sollen das Wunder bewirken. Reicht das wider Erwarten nicht, müssen eben die pädagogischen Betreuer stellvertretend für uns die gewünschten Qualifikationen entwickeln.
    Flucht sei unmöglich, heißt es.
    In Helsinki habe ich die Möglichkeit, mich abzusetzen, ungenutzt verstreichen lassen, obwohl mein Flieger aus Berlin früher da war als der aus Frankfurt mit den anderen Teilnehmern der Maßnahme. Wie festgeleimt bin ich auf der Bank im Terminal 1 für Inlandflüge sitzen geblieben und hab die volle Aufmerksamkeit auf mich gezogen. Extrem neugierig, die Finnen. Ohne zu blinzeln starren die einen an. Richtig fiese Kopfschmerzen hab ich davon gekriegt. Den letzten Nerv hat mir allerdings der Typ an der Wand geraubt. Nur kurz ist sein leerer Blick über mich gestreift, und schon hat sie mich gepackt  – meine Paranoia. Reflexartig hab ich meine Panik-Tagebücher aus der Tasche gezogen. Auf den Deckel der neuen Kladde hab ich Panik-am-Polarkreis geschrieben und den ersten Eintrag gemacht. Nur so kriege ich meinen Verfolgungswahn in den Griff.
    15. 9. 12, Terminal 1, Helsinki
    Fühl mich belauert von Mann um 35, schwarze Outdoor-Klamotten, graue Strickmütze, schwarze Schnürstiefel.
    Als sich dann das Inlandflug-Terminal mit Fluggästen gefüllt hat, war mir sofort klar, wer zu meiner Reisegruppe gehört. Sozialpädagogen, Psychologen, Bullen und Gestörte erkenne ich blind. Und die haben ebenfalls kapiert, dass ich dazugehöre, weil sie mich beim Tagebuchschreiben erwischt haben, was total verhaltensauffällig ist und extrem gestört rüberkommt. Die Blicke der Finnen sind zwischen mir und den Neuankömmlingen nur so hin- und hergeflogen. Auch die haben unsre Zusammengehörigkeit geschnallt. Wie wir uns bewegen, unser Auftreten, die Klamotten, die Lautstärke – irgendwas macht uns immer zu Außenseitern. Der Typ an der Wand war plötzlich weg. Der Rest der Leute könnten Bergarbeiter und Touristen gewesen sein. Aber meine Gruppe geht nicht in den Berg oder in die Sauna, sondern ins Eis.
    Wir sollen eine Jugendherberge aus Eis bauen. Ich habe mich freiwillig dafür gemeldet, der IRONIE wegen.
    Mein Ziel ist überall, irgendwo, bloß nicht da, wo ich herkomme.
    Während die Spannung vor dem, was auf mich zukommt, steigt, wird durch die Entfernung die Last auf meinen Schultern leichter. Noch zweihundert Kilometer, dann landen wir in Ivalo.
    Ich steck das Flugjournal ins Netz am Vordersitz und blättere in meinem ersten Panikbuch. Auf Rat einer Psychologin schreib ich seit vier Jahren meine Albträume auf. »Du kannst weglaufen und trotzdem festhalten, was dich bewegt«, hat sie mir erklärt. Das hat mir eingeleuchtet, und als die Panikattacken richtig schlimm geworden sind, hab ich auch die aufgeschrieben. Aber meine zwanghaften Notizen beruhigen mich nicht. Ich friere beim Lesen.
    3. 2. 09, Berlin
    Ich
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