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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot
Autoren: Elisabeth Rapp
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zusammen. Ich rede nur kurz mit den Ärzten.«
    Am Ende des Flurs, keine zehn Meter von seinem wachsamen Blick entfernt, mussten wir auf der Bank auf ihn warten. Es war gut zu erfahren, dass Anttis Augen durch den Schutzreflex der Augenlider unverletzt geblieben sind. Beck besuchen wir morgen. Er hat eine schwere Lungenentzündung.
    »Was ist mit Goedel?«, hat Paolo gefragt, als wir vor dem Pizzaladen standen.
    Riski hat mich prüfend angesehen. Hätte ich gesagt, dass ich es nicht wissen will, hätte er geschwiegen. Aber ich wollte es auch wissen.
    »Sie haben ihn operiert, er liegt auf der Intensivstation. Der Arzt sagt, er hat Überlebenschancen.«
    Jetzt brennt nur noch Holz. Die Panikbücher sind Asche, Rauch, Vergangenheit.
    Riski zerteilt die erste Pizza mit seinem Finnmesser. »Was machen wir morgen?«
    »Fauna.« Kolja hat seine Zähne bereits in die Pizza geschlagen.
    »Ich gehe nicht mit euch in die Sauna. Nicht mal an Heiligabend!«, protestiere ich.
    »An Natale gehen alle kriminellen Mafiosi in die Kirche. Ich bin da keine Ausnahme. Morgen gibt’s kein Fleisch, sondern Meeresfrüchte und Kuchen. Weil es hier keinen Panettone gibt, essen wir eben irgendeinen harten finnischen Kuchen.« Paolo hat klare Vorstellungen.
    Riski grinst. »Es gibt hier vielleicht Panettone, aber keine katholische Kirche.«
    Paolo fällt vom Glauben ab. »Was habt ihr dann?«
    »Eine evangelisch-lutherische und eine orthodoxe Kirche.«
    Letztes Jahr hab ich nichts von Paolos glühendem Bedürfnis nach italienischen Weihnachtsriten verspürt.
    »Und was für Weihnachtsbräuche gibt’s bei euch?« Ich will die Debatte abkürzen. Kein Kranken- und Kirchenbesuch. Das ist echt zu viel.
    »Wir zünden auf dem Friedhof Kerzen an und gehen in die Sauna«, sagt Riski.
    »Ich hab mich ewig nicht gewaschen! Bitte, Tilly, lass uns in die Sauna gehen. Und dann peitschst du mich mit einer Birkenrute aus«, bettelt Kolja.
    Brüllendes Gelächter folgt.
    »Wie wär’s mit deinem anderen Kindertraum, Kolja? Wir packen Tierfutter auf den Schlitten, fahren in den Wald und feiern eine Waldweihnacht. Und danach zünden wir an Sandras Grab Kerzen an.«
    Vorschlag angenommen.
    Die Verweildauer im Krankenhaus fällt kurz aus. An unseren Blumen erfreuen sich die Schwestern, wir dürfen sie nicht mit zu Beck hineinnehmen. Mit Mundschutz stehen wir um Becks Bett, müssen aber nach einem geflüsterten »Frohe Weihnachten und gute Besserung« wieder hinaus, weil er fiebert.
    Antti hat doppeltes Glück gehabt. Sein Pilotenoverall war aus schwer entflammbarem Material, und da er sich gleich in den Schnee geworfen hat, sind die Verbrennungen in seinem Gesicht nur zweiten Grades. Die Augenlider und Hände sind stärker betroffen. Er schläft.
    »Sieh ihn dir an«, flüstert Paolo auf dem Flur. »Zwischen dir und ihm ist eine riesige dicke Trennscheibe.« Goedel.
    Er flößt weniger Schrecken ein als die Infusionsgestänge und die schrecklichen, an seinem Bett festgeklammerten Beutel.
    Mein Sinn für Farben hat sich verschärft.
    Alles andere ist milder geworden, denn ich bin nicht allein.
    Wir sind zu viert, stehen nebeneinander und sehen zusammen zu ihm hin.
    Etwas in mir sagt, ich werde ihn nicht wiedersehen.
    Die herumstreunenden Rentiere haben unser duftendes Heu entdeckt und lassen sich von den flackernden Kerzen im Schnee nicht irritieren.
    »Ist doch ein Witz, dass wir an Heiligabend Rentiere füttern.« Kolja schlottert. »Ich bin ein echter Same. Wann fahren wir endlich? Mir ist kalt.«
    Paolo und ich hängen Vogelfutter in den Bäumen auf.Wir sind auf dem ehemaligen Campgelände. Keine Container, nichts. In diesem Jahr gibt’s keine Jugendherberge aus Eis.
    »Es reicht. Das ist genug Futter.« Riski will nicht, dass wir Unglückshäher füttern.
    Erste Polarlichter wehen über den Himmel.
    Wir gleiten über den Schnee. Als wir Sandras Schneegrab erreicht haben, hat das Licht ein Zentrum und breitet sich in unglaublichen Farben nach allen Seiten aus.
    Ich bin ergriffen. Paolos Augen leuchten mich an, in Koljas schwimmen Tränen. Riski zündet unsere Kerzen an.
    »Sagt ihr was, wenn ihr die Kerzen auf die Gräber stellt?«, flüstere ich, als wir kleine Mulden in den Schnee machen und unsere Kerzen hineinstecken.
    »Das hier ist ein altes karelisches Lied. Ich spreche es für Sandra«, sagt Riski.
    Wir halten uns an den Händen, lauschen den langen, seltsamen Versmaßen und sehen in den Himmel.
    An Joulupäivä, dem ersten Weihnachtstag, 
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