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Wenn er mich findet, bin ich tot

Wenn er mich findet, bin ich tot

Titel: Wenn er mich findet, bin ich tot
Autoren: Elisabeth Rapp
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laufe weg und hinterlasse im Schnee den Abdruck eines Engels mit ausgebreiteten Flügeln.
    Zweige schlagen mir ins Gesicht. Als ich zurückblicke, führt eine Blutspur durch meinen Abdruck im Schnee. Der tote Engel wird von einem riesigen Mann an den Flügeln weggeschleift.
    Ich laufe weg. Er verfolgt mich.
    Schreiend aufgewacht.
    Die Toilettentür klappert. Schnell schiebe ich mein Panikbuch unter das Flugjournal, mach die Augen zu, lass den Kaugummi zwischen die Lippen rutschen und simuliere Tiefschlaf. Soz. Päd. Michael Beck rüttelt kurz an meiner Rückenlehne, als er sich hinter mir auf seinen Fensterplatz schiebt. Dann führt er mit gedämpfter Stimme und unter Aktenblätterrascheln die Unterhaltung mit Soz. Päd. Stefan Tonberg weiter.
    Notunterkunft, Missbrauch, Alkoholismus, Drogen- und Gewaltdelikte … Stichworte verpfuschter Leben, die mitNamen verknüpft sind, die ich mir aus Selbstschutz merke, bis mein eigener fällt.
    »Tilly Krah, bald fünfzehn, die siebte von neun Kindern.«
    Beck zählt die Trostlosigkeiten meines Lebens auf, die sich unwesentlich von den schon genannten unterscheiden: »Vernachlässigung, Verwahrlosung, brutale Misshandlungen, diverse Heimunterbringungen, haut überall ab.«
    Es folgen unterdrückte Geräusche, ein »Psst« von Tonberg, ein Schnarchlaut von Beck. Wahrscheinlich hat Tonberg Skrupel, ich könnte etwas hören, und Beck räumt sie aus.
    »In Helsinki hat sie zwei Stunden auf uns gewartet«, sagt Tonberg etwas leiser.
    »Entweder die Maßnahme oder ab in die Jugendpsychiatrie, das hat ihr die Entscheidung zu bleiben leicht gemacht. Im Bericht steht: Sie geht keine Beziehungen oder Bindungen ein und verweigert jede Förderung, obwohl sie eine außergewöhnliche sportliche Begabung haben soll«, höre ich Beck sagen.
    Mir fällt der Kaugummi runter.
    »Was?«
    Tonberg nimmt mir das Wort aus dem Mund. Nur klingt es bei ihm ungläubig, während ich total wütend bin! Sportliche Begabungen entwickeln sich nämlich zwangsläufig, wenn man jederzeit aus dem Stand über Hecken um sein Leben rennen muss. Da laufen Flucht und Hürdenlauf aufs Gleiche raus! Eine Jugendherberge aus Eis aufzubauen, ist dagegen ein schlechter Witz.
    »Bei der schlechten Haltung und dem Fliegengewicht? Kaum zu glauben«, fährt Tonberg fort.
    »Doch, doch, sie soll ein läuferisches Talent haben. Hast du den Bericht der Jugendhilfe gelesen, als man sie aus ihrem Zuhause rausgeholt hat?«
    »Es gibt Sachen, die glaubt man nicht. Ist mir total an die Nieren gegangen.«
    Ich schalte den Ton ab. Beck und Tonberg wissen nichts über mich. Gar nichts. Vor drei Stunden sind wir uns zum ersten Mal begegnet, doch sind sie sich sicher, mich durch ihre blöde Pädagogenbrille aus Misstrauen und Mitleid so zu sehen, wie ich bin. Super Anfang, alles klar.
    Ich stelle mich taub, bis Becks frustrierte Stimme wieder gegen mein Trommelfell schlägt.
    »Am liebsten würde ich den EPM-Job hinschmeißen und wenigstens einmal in meinem Berufsleben qualitative statt quantitative Jugendarbeit machen.«
    »Der Wunschtraum aller Pädagogen. Alle träumen davon, zwei, drei dankbare Problemkinder auf den Pfad der Tugend zu führen.« Tonberg lacht leise. »Dann musst du aber aufs Land ziehen.«
    »Wohn schon auf dem Land«, entgegnet Beck säuerlich.
    »Und du kannst Frauen aus deinem Leben streichen. Die haben nämlich keinen Bock, ihr Leben mit andrer Leute verkorksten Plagen, die unseren Lebensunterhalt finanzieren, zu verbringen.«
    Ich ziehe mir die Kapuze über die Ohren, um dem Gelaber zu entgehen, als es einen unglaublich lauten Schlag tut. Das Flugzeug erzittert, bebt, sackt ab. Alle schreien auf. Ich zieh die Beine an, klemme den Kopf zwischen die Knie und denke: Das war’s.
    Es ist wie bei den letzten Prügeln, bevor ich ins Heim gekommen bin. Mein elfter Geburtstag. Damals kauerteich genauso da wie jetzt. Die Arme über dem Kopf. Ein Schlag. Die Tür zitterte. Ein zweiter Schlag. Sie splitterte. Ein weiterer Schlag. Der Stuhl unterm Griff rutschte weg. Der Alte brüllte und ich hab gedacht: Das war’s. Die Tür krachte gegen die Wand, und sein Prügel sauste auf mich nieder. Und genau wie damals wende ich meinen Trick an und träume mich fort: Meine Haut verfärbt sich blassblau, ich werde durchsichtig, spring in die Höhe und fliege auf und davon.
    Ich warte, hab keine Angst und spüre, wie mir Tränen über die Nase hinunterlaufen. Hab ich etwa laut geschrien?
    Ich beuge mich über den leeren Nebensitz und
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