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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Autoren: Lauren Oliver
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Schulterblätter zeichnen sich unter ihrem durchnässten T-Shirt ab und wieder habe ich diese Vorstellung von einem Paar Flügel, die sich auf ihrem Rücken entfalten, sie hinwegtragen, außer Gefahr.
    Â»Sam! Sam! Sam!« Die Stimmen sind jetzt ganz nah und schräge Lichtkegel streifen im Zickzack durch den Wald. Ich höre auch Schritte und Zweige, die unter Tritten zerbrechen. Auf der Straße war bis eben ungewöhnlich wenig Verkehr, aber jetzt höre ich von beiden Seiten das laute Grollen großer Motoren. Ich schließe die Augen und denke ans Fliegen.
    Â»Ich will dir helfen«, sage ich zu Juliet, obwohl ich weiß, dass ich mich ihr nicht verständlich machen kann, so nicht.
    Â»Begreifst du es denn nicht?« Sie dreht sich zu mir um und zu meiner Überraschung sehe ich, dass sie weint. »Man kann mich nicht in Ordnung bringen, verstehst du?«
    Ich muss daran denken, wie ich mit Kent auf der Treppe stand und genau dasselbe gesagt habe. Ich muss an seine schönen leuchtend grünen Augen denken und daran, wie er gesagt hat: Du musst nicht in Ordnung gebracht werden , und an seine warmen Hände und seine weichen Lippen. Ich muss an Juliets Maske denken und daran, dass wir uns vielleicht alle zusammengestückelt und geflickt und nicht richtig ganz fühlen.
    Ich habe keine Angst.
    Ich nehme vage das Dröhnen in meinen Ohren wahr und Stimmen in der Nähe und Gesichter, die bleich und ängstlich aus der Dunkelheit auftauchen, aber ich muss immer weiter Juliet anschauen, wie sie weint und immer noch so hübsch ist.
    Â»Es ist zu spät«, sagt sie.
    Und ich erwidere: »Es ist nie zu spät.«
    Genau in diesem Bruchteil einer Sekunde hat sie sich auf die Straße geworfen, aber sie blickt erschrocken zurück und in ihren Augen leuchtet Erkenntnis auf. Dann stürze ich hinter ihr her. Ich stoße sie in den Rücken und sie schießt nach vorn und rollt auf die andere Straßenseite, als sich zwei Lieferwagen, die gerade aneinander vorbeifahren, begegnen. Ein wütendes hohes Aufheulen ertönt und jemand – mehr als einer? – schreit meinen Namen, Hitze durchströmt meinen Körper und ich habe das Gefühl, von einer gewaltigen Hand, einer Riesenhand, hochgehoben, hochgeworfen zu werden; die Erde dreht sich, kippt um und zur Seite, und dann ist da dunkler Nebel, der die Ränder der Erde anknabbert und alles in einen Traum verwandelt.
    Schwebende Bilder, die kommen und gehen: leuchtend grüne Augen und eine Wiese mit sonnengewärmtem Gras, ein Mund, der sagt: Sam, Sam, Sam , und es klingt wie ein Lied. Drei Gesichter, die zusammen aufblühen wie Blumen an einem einzigen Stiel, Namen,die verebben, ein einzelnes Wort: Liebe. Rote und weiße Blitze, Äste, die angestrahlt werden wie die gewölbte Decke einer Kirche.
    Und ein Gesicht über meinem, weiß und schön, mit Augen so groß wie der Mond. Du hast mich gerettet. Eine Hand auf meiner Wange, kühl und trocken. Warum hast du mich gerettet? Worte, die aufsteigen wie auf einer Woge: Nein. Im Gegenteil. Augen von der Farbe des Himmels im Morgengrauen, ein Kranz aus blondem Haar, so hell und weiß und blendend, dass ich schwören könnte, es ist ein Heiligenschein.

EPILOG
    Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie, aber bei mir ist es nicht so.
    Ich sehe nur meine strahlendsten Sternstunden. Die Dinge, die ich in Erinnerung behalten und für die ich in Erinnerung bleiben möchte. Wie Izzy und ich in Cape Cod uns einmal um Mitternacht in die Bucht geschlichen haben und versuchten, Krebse mit übrig gebliebenem Hackfleisch zu fangen, und der Mond so dick und rund war, dass er aussah, als könnte man sich draufsetzen. Wie Ally versucht hat, ein Soufflé zu backen, und mit einer Rolle Klopapier als Kochmütze auf dem Kopf in die Küche marschiert kam und Elody so lachen musste, dass sie ein bisschen in die Hose gemacht hat und uns alle schwören ließ, es niemandem zu sagen. Wie Lindsay die Arme um uns schlingt und sagt: »Ich lebe und sterbe für euch«, und wie wir alle antworten: »Ewig und für immer.« Wie ich an heißen Augustnachmittagen auf der Terrasse gedöst habe und der Geruch nach frisch gemähtem Gras und Blumen so schwer in der Luft lag, dass man ihn beinahe schmecken konnte. Wie es an Weihnachten geschneit hat und Dad einen der alten Fernsehtische aus dem Keller zu Feuerholz
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