Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Autoren: Lauren Oliver
Vom Netzwerk:
immer noch unzufrieden mit der Vereinbarung, aber sie steigt aus und Ally und Elody folgen ihr. Ich gebe mir nicht die Mühe zu antworten. Ich habe bereits mehrmals erklärt, dass ich vielleicht früher von der Party weggehe. Ich weiß, dass sie alle annehmen, es hat damit zu tun, dass Rob da ist und ich Angst habe, auszuflippen oder so was, und ich berichtige sie nicht.
    Ich habe vor, das Auto bei Lindsay abzustellen, aber nachdem ich auf die Route 9 eingebogen bin, stelle ich fest, dass ich unwillkürlich nach Hause fahre. Ich bin ganz ruhig, leer, als wäre die Dunkelheit von draußen irgendwie in mich eingesickert und hätte alles in mir ausgeschaltet. Es ist kein unangenehmes Gefühl. Es ist so ähnlich, wie in einem Swimmingpool auf dem Rücken zu liegen, bis man die richtige Stellung findet, in der man sich treiben lassen kann, ohne nachzudenken.
    Die meisten Lichter bei mir zu Hause sind aus. Izzy schläft schonseit mehreren Stunden. Im Hobbyraum leuchtet ein schwaches blaues Licht. Mein Vater guckt wahrscheinlich fern. Oben markiert ein helles Lichtquadrat das Badezimmer. Ich sehe eine schattenhafte Figur, die sich dahinter bewegt, und stelle mir vor, wie meine Mutter sich Clinique-Feuchtigkeitscreme ins Gesicht tupft, ohne ihre Kontaktlinsen die Augen zusammenkneift und der abgewetzte Ärmel ihres Bademantels flattert wie ein Vogelflügel. Wie immer haben sie das Licht auf der Veranda für mich angelassen, so dass ich beim Nachhausekommen nicht im Dunkeln nach dem Schlüsselbund in meiner Tasche tasten muss. Wahrscheinlich haben sie überlegt, was wir morgen machen, vielleicht darüber nachgedacht, was es zum Frühstück geben soll oder ob sie mich vor dem Mittag wecken sollen, und einen Moment überwältigt mich der Schmerz darüber, was ich alles verliere – bereits verloren habe, vor Tagen im Bruchteil einer Sekunde aus Schleudern und Reißen, in dem mein Leben von seiner Achse getrennt wurde –, und ich lege den Kopf aufs Lenkrad und warte darauf, dass das Gefühl vorübergeht. Und es geht vorüber. Der Schmerz lässt nach. Mein Körper entspannt sich und einmal mehr geht mir auf, wie richtig alles ist.
    Auf der Fahrt zu Lindsay denke ich an etwas, das ich vor Jahren in Naturkunde gelernt habe, dass Vögel, die von ihrem Schwarm getrennt wurden, trotzdem instinktiv gen Süden fliegen. Sie wissen, wohin, auch wenn ihnen nie jemand den Weg gezeigt hat. Damals redeten wir alle darüber, wie unglaublich das ist, aber jetzt kommt es mir gar nicht so seltsam vor. Genau so fühle ich mich jetzt: als wäre ich ganz allein in der Luft und wüsste trotzdem genau, was ich zu tun habe.
    Ein paar Kilometer vor Lindsays Haus hole ich mein Handy raus und tippe Kents Nummer ein. Mir kommt der Gedanke, dass er vielleicht gedacht hat, ich würde ihn verarschen. Vielleicht geht er nicht ran, wenn er die Nummer nicht erkennt, oder vielleicht ist er so beschäftigt damit, die Leute davon abzuhalten, auf die Orientteppiche seiner Eltern zu kotzen, dass er es nicht hört. Ich zähle das Klingeln und werde immer nervöser. Eins, zwei, drei.
    Beim vierten Klingeln höre ich ein Rascheln. Dann Kents Stimme, warm und beruhigend: »Heiße Helden, Rettung von Frauen in Not, entführten Prinzessinnen und nicht motorisierten Mädchen seit 1684. Was kann ich für Sie tun?«
    Â»Woher wusstest du, dass ich dran bin?«, frage ich.
    Die Musik wird lauter und das Stimmengewirr schwillt an. Dann höre ich, wie Kent die Hand über den Hörer legt und brüllt: »Raus!« Eine Tür geht zu und die Hintergrundgeräusche sind plötzlich wieder gedämpfter.
    Â»Wer sollte denn sonst dran sein?«, sagt er sarkastisch. »Alle anderen sind schließlich hier.« Er verstellt etwas und seine Stimme wird lauter. Er muss den Mund ganz dicht ans Handy halten. Der Gedanke an seine Lippen lenkt mich ab. »Also, was gibt’s?«
    Â»Ich hoffe, dein Auto ist nicht eingeparkt«, sage ich. »Denn ich brauche ganz unbedingt eine Fahrgelegenheit.«
    Auf dem Weg zurück zu Kent schweigen wir die meiste Zeit. Er fragt mich nicht, warum ich mitten auf Lindsays Einfahrt gestanden habe, und er dringt auch nicht in mich, ihm zu sagen, warum ich ihn ausgesucht habe, um mich zu fahren. Ich bin dankbar dafür und glücklich, einfach still neben ihm zu sitzen und den Regen und die dunklen Pinselstriche der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher