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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Autoren: Lauren Oliver
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schwärmen um mich herum, aber kaum jemand sieht in meine Richtung. Vielleicht sende ich ihnen gegenüber auch komische Schwingungen aus oder sie merken, dass ich mit den Gedanken woanders bin. Oder vielleicht – und das macht mich traurig, sobald es mir einfällt – können sie irgendwie spüren, dass ich bereits weg bin. Ich schiebe den Gedanken beiseite.
    Schließlich sehe ich sie mit gesenktem Kopf zur Tür hereinkommen, einen weißen Pullover locker umgebunden. Sofort mache ich einen Satz nach vorn und lege ihr eine Hand auf den Arm. Sie fährt zusammen und starrt mich an. Obwohl sie sich sicher vorgestellt hat, mir heute Abend von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, trifft sie die Tatsache, dass ich sie gefunden habe und nicht sie mich, unvorbereitet.
    Â»Hallo«, sage ich. »Kann ich einen Moment mit dir reden?«
    Sie klappt den Mund auf, dann zu, dann wieder auf. »Ich, äh, muss eigentlich irgendwohin.«
    Â»Nein, musst du nicht.« Entschlossen ziehe ich sie vom bevölkerten Eingang weg in einen etwas abgelegeneren Bereich des Flurs. Hier kann man sich ein bisschen besser verstehen, obwohl es so eng ist, dass wir beinahe aneinandergedrängt dastehen. »Hast du nicht sowieso nach mir gesucht? Hast du nicht nach uns gesucht?«
    Â»Woher …?« Sie bricht ab, holt Luft und schüttelt den Kopf. »Ich bin nicht deinetwegen hier.«
    Â»Ich weiß.« Ich starre sie an und versuche sie dazu zu bringen, mich anzusehen, aber sie tut es nicht. Ich will ihr sagen, dass ich es begreife, es verstehe, aber sie mustert die Fliesen auf dem Boden. »Ich weiß, dass es um mehr geht.«
    Â»Du weißt gar nichts«, sagt sie matt.
    Â»Ich weiß, was du heute Abend vorhast«, sage ich ganz leise.
    Da sieht sie auf. Eine Sekunde lang begegnen sich unsere Blicke und ich sehe Angst in ihren Augen aufblitzen und noch etwas – Hoffnung, vielleicht? –, aber sie senkt sie schnell wieder.
    Â»Das kannst du nicht wissen«, sagt sie einfach. »Das weiß niemand.«
    Â»Ich weiß, dass du mir etwas zu sagen hast«, sage ich. »Ich weiß, dass es etwas gibt, das du uns allen sagen willst – mir, Lindsay, Elody und Ally.«
    Sie blickt wieder auf, aber diesmal hält sie mit weit aufgerissenen Augen meinem Blick stand und wir sehen uns an. Jetzt weiß ich, was der Ausdruck in ihrer Miene hinter der Angst ist: Verwunderung.
    Â»Du Miststück«, flüstert sie so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich die Worte wirklich gehört habe oder mich nur an sie erinnere, sie mir von ihrer Stimme gesprochen vorstelle. Sie sagt es so, als rezitierte sie die Zeilen aus einem alten Drama, ein lange vernachlässigtes Drehbuch, das ihr nicht aus dem Kopf geht.
    Ich nicke. »Ich weiß«, sage ich. »Ich weiß, dass ich das bin. Ich weiß, dass ich das gewesen bin – dass wir alle das gewesen sind. Und es tut mir leid.«
    Sie tritt einen schnellen Schritt zurück, aber da geht es nicht weiter und sie stößt gegen die Wand. Sie drückt sich flach mit ausgestreckten Händen an den Putz, keuchend, als wäre ich irgendein wildes Tier, das sie jeden Moment angreifen könnte. Sie schüttelt heftig den Kopf. Ich glaube, sie merkt es noch nicht einmal.
    Â»Juliet.« Ich strecke die Hand aus, aber sie presst sich noch einen Zentimeter weiter an die Wand und ich lasse den Arm sinken. »Ich mein’s ernst. Ich versuche dir klarzumachen, wie leid es mir tut.«
    Â»Ich muss gehen.«
    Es scheint sie Überwindung zu kosten, sich von der Wand zu lösen, als wäre sie nicht sicher, ob sie ohne Stütze stehen kann. Sie versucht sich an mir vorbeizuquetschen, aber ich schiebe mich vor sie, so dass wir uns erneut gegenüberstehen.
    Â»Es tut mir leid«, sage ich.
    Â»Das sagtest du bereits.« Jetzt wird sie wütend. Darüber bin ich froh. Ich glaube, das ist ein gutes Zeichen.
    Â»Nein, ich …« Ich hole tief Luft und hoffe, dass sie mich versteht. So muss es sein. »Ich muss mit dir kommen.«
    Â»Bitte«, sagt sie, »lass mich einfach allein.«
    Â»Das versuche ich dir ja gerade zu erklären. Das geht nicht.« Wie wir da so stehen, wird mir bewusst, dass wir fast genau gleich groß sind. Wir müssen aussehen wie die dunkle und die helle Seite eines Oreo-Kekses, und ich denke, wie leicht es auch andersrum sein könnte. Sie
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