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Tödliche Täuschung

Tödliche Täuschung

Titel: Tödliche Täuschung
Autoren: Anne Perry
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    Oliver Rathbone lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und stieß einen Seufzer der Zufriedenheit aus. Er hatte soeben einen langwierigen und mühsamen Fall erfolgreich abgeschlossen und für seinen Mandanten wegen einer zu Unrecht erfo lgten Anschuldigung einen beträchtlichen Schadensersatz erstritten. Der Name seines Mandanten war wieder vollkommen reingewaschen; der Mann war ihm dankbar. Er hatte Rathbone gesagt, dass er brillant sei - ein Kompliment, das Rathbone mit Würde und gezieme nder Bescheidenheit entgegennahm und sogleich mit dem Gefühl abtat, es handle sich eher um eine Höflichkeit als um die Wahrheit. Aber hart gearbeitet und ein hervorragendes Resultat erzielt hatte er durchaus. Das waren die Talente, die ihn zu einem der besten Anwälte Londons, wenn nicht gar ganz Englands machten.
    Nun saß er lächelnd und voller Vorfreude auf einen überaus angenehmen Abend da. Er würde auf Lady Hardestys Ball gehen. Miss Annabelle Hardesty war der Königin vorgestellt worden und hatte sogar eine anerkennende Bemerkung von Prinz Albert eingeheimst. Seither riss man sich in der Gesellschaft geradezu um sie. Es war ein Abend, an dem alle möglichen Siege gefeiert werden mochten. Insgesamt eine außerordentlich angenehme Angelegenheit.
    Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Tagträumereien.
    »Ja?« Er richtete sich auf. Er hatte niemanden erwartet, sondern eigentlich daran gedacht, vorzeitig nach Hause zu gehen, vielleicht einen kurzen Spaziergang durch den Park zu machen und sich an der späten Frühlingssonne zu erfreuen, die auf die gerade erblühenden Kastanienbäume fiel.
    Die Tür öffnete sich, und Simms, sein erster Schreiber, trat ein.
    »Was gibt’s denn?«, fragte Rathbone mit einem Stirnrunzeln.
    »Ein junger Gentleman möchte Sie sprechen, Sir Oliver«, erwiderte Simms ernst. »Er hat keinen Termin, scheint aber sehr erregt zu sein.« Seine Stirn legte sich in tiefe Sorgenfalten, und er sah Rathbone eindringlich an. »Er ist wirklich ein Gentleman, der junge Mann, Sir, und obwohl er sich alle Mühe gibt, es zu verbergen, quält ihn, so fürchte ich, die Angst.«
    »Dann sollten Sie ihn wohl besser hereinführen«, räumte Rathbone ein - nicht, weil er glaubte, die Schwierigkeiten des jungen Mannes seien von einer Art, die er zu lösen vermochte, sondern eher aus Wertschätzung für Simms.
    »Vielen Dank, Sir.« Simms deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück.
    Eine Sekunde später schwang die Tür wieder auf, und der junge Mann erschien. Er war, wie Simms gesagt hatte, zutiefst beunruhigt. Er war nicht groß - vielleicht einen Zoll kleiner als Rathbone selbst -, obwohl sein schlanker Körper und die gerade Haltung seiner Schultern ihn größer wirken ließen, als er tatsächlich war. Er hatte eine sehr helle Haut und schöne, gleichmäßige Züge. Das kräftige Kinn und der gerade Blick, mit dem er Rathbone in die Augen sah, verliehen seinem Gesicht Stärke. Es war - wie es bei Menschen von sehr hellem Teint gelegentlich vorkommt - schwierig, sein Alter zu schätzen, aber er musste um die Dreißig sein.
    Rathbone erhob sich.
    »Guten Tag, Sir. Treten Sie doch bitte näher, und sagen Sie mir, in welcher Weise ich Ihnen dienen kann.«
    »Guten Tag, Sir Oliver.« Der junge Mann schloss die Tür hinter sich und ging auf den Stuhl vor Rathbones Schreibtisch zu. Er atmete in tiefen, sehr gleichmäßigen Züge n, als bemühe er sich bewusst, seine Atmung zu kontrollieren. Aus der Nähe sah man, dass seine Schultern angespannt waren.
    »Mein Name ist Killian Melville«, begann er langsam. Er sah Rathbone direkt ins Gesicht. »Ich bin Architekt.« Er sprach mit großem Nachdruck. Er zögerte, den Blick noch immer fest auf Rathbone geheftet. »Ich fürchte, man wird mich in nächster Zeit wegen des Bruchs eines Versprechens vor Gericht bringen.«
    »Was haben Sie denn versprochen?«, fragte Rathbone, obwohl er glaubte, die Antwort zu kennen. Diese spezielle Ausdrucksweise zielte im Üblichen auf eine ganze bestimmte Sache.
    Melville schluckte. »Miss Zillah Lambert zu heiraten, die Tochter meines Gönners, Mr. Barton Lambert.« Es fiel ihm offensichtlich schwer, selbst diese wenigen Worte über die Lippen zu bringen. Ein verzweifelter Ausdruck trat in sein Gesicht.
    »So nehmen Sie doch bitte Platz, Mr. Melville.«
    Rathbone wies auf den Stuhl ihm gegenüber. »Sie können mir auf jeden Fall die Einzelheiten schildern, aber ich halte es durchaus für denkbar, dass ich Ihnen nicht werde helfen
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