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Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Titel: Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
Autoren: Lauren Oliver
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gesagt, du hättest nicht viel Zeit. Was hast du damit gemeint?«
    Jetzt, wo die Tränen einen Weg nach draußen gefunden haben, kann ich sie nicht mehr aufhalten, und ich halte den Kopf gesenkt. Eine Träne platscht auf meinen Schuh und hinterlässt einen sternförmigen Fleck. »Es gibt da ein paar Sachen … die ich nicht so richtig erklären kann.«
    Er legt zwei Finger unter mein Kinn und hebt mein Gesicht an. Und da strauchel ich wirklich. Meine Beine geben einfach unter mir nach und er schiebt einen Arm hinter meinen Rücken, um mich aufrecht zu halten.
    Â»Was ist los, Sam?« Mit dem Daumen wischt er mir eine Träne ausdem Augenwinkel, während er mein Gesicht mustert, wieder so, dass ich das Gefühl habe, er kehrte mein Innerstes nach außen und sähe mir direkt ins Herz. »Hast du Probleme?«
    Ich schüttele den Kopf, unfähig etwas zu sagen, und er fährt fort. »Du kannst es mir sagen. Egal, was es ist, du kannst mir vertrauen.«
    Einen Augenblick bin ich versucht, einfach so stehen zu bleiben, an ihn gedrängt; ihn immer wieder zu küssen, bis es sich anfühlt, als würde ich durch ihn atmen. Aber dann muss ich an Juliet im Wald denken. Ich sehe, wie zwei blendende Lichtkegel die Dunkelheit durchschneiden, und höre ein leises Dröhnen, wie ein weit entfernter Ozean, ein Motor, der anspringt. Das Dröhnen und das Licht füllen meinen Kopf und vertreiben alles andere – die Angst, das Bedauern, die Traurigkeit. Jetzt kann ich mich wieder konzentrieren.
    Â»Ich habe keine Probleme. Es geht nicht um mich. Ich ich muss jemandem helfen.« Ich löse mich sanft von Kent, schiebe seinen Arm weg. »Ich kann es nicht so richtig erklären. Du musst mir vertrauen.«  
    Ich beuge mich vor und gebe ihm einen letzten Kuss – nur einen kleinen, unsere Lippen berühren sich kaum, aber genug, dass mir wieder das Herz aufgeht, dass ich spüre, wie mich Stärke und Kraft durchströmen. Als ich zurückweiche, rechne ich mit weiteren Diskussionen, aber stattdessen sieht er mich nur noch einen Augenblick länger an, dann wirbelt er herum und geht auf die Treppe zu. Mein Magen verkrampft sich und einen Sekundenbruchteil sehne ich mich so sehr nach ihm – er fehlt mir –, dass ich das Gefühl habe, meine ganze Brust sei eingefallen. Dann denke ich an die Dunkelheit und die Lichter und das Dröhnen und Juliet, und bevor ich an etwas anderes denken kann, kämpfe ich mich die letzten Schritte bis zur Tür und trete hinaus in die Kälte, wo der Regen immer noch fällt wie Splitter aus Mondlicht oder wie Stahl.
    EIN WUNDER AUS ZUFALL UND FÜGUNG,
TEIL 2
    Â»Juliet! Juliet!« Ich weiß, dass sie einiges an Vorsprung hat und mich nicht hören kann, aber es geht mir besser, wenn ich ihren Namen rufe, dann fühlt sich die Dunkelheit um mich herum nicht so eng und schwer an.
    Natürlich habe ich die Taschenlampe vergessen. In einer Mischung aus Schlurfen und Rennen schlittere ich die vereiste Zufahrt runter und wünschte, ich hätte Turnschuhe angezogen statt meiner olivfarbenen Lieblingslederstiefel mit Keilabsatz von Dolce Vita. Andererseits sind das Schuhe, für die ich sterben könnte – in denen ich sterben könnte.
    Die Lichter aus dem Haus sind hinter mir bereits erloschen, verschluckt von den Kurven der Straße und den hohen spitzen Bäumen, als ich glaube, jemanden meinen Namen rufen zu hören. Einen Augenblick bin ich mir sicher, es mir nur eingebildet zu haben oder dass es nur das Heulen des Windes in den Ästen ist. Ich bleibe zögernd stehen, dann höre ich es wieder. »Sam!« Es klingt wie Kent.
    Â»Sam! Wo bist du?«
    Es ist Kent.
    Das bringt mich ganz durcheinander. Ich war mir ziemlich sicher, dass es mit seinem Wegmarschieren auf der Party erledigt war, und hätte nie gedacht, dass er mir folgen würde. Ich denke kurz darüber nach, umzukehren und zu ihm zurückzugehen. Aber ich habe keine Zeit. Außerdem habe ich alles gesagt, was ich kann. Als ich da in der eisigen Kälte stehe, mir die kalte Luft in der Lunge brennt und mir der Regen in den Kragen und den Rücken entlangläuft, schließe ich einen Moment die Augen und erinnere mich daran, wie ich neben ihm imwarmen, trockenen Auto gesessen habe, auf allen Seiten umgeben von Wasser. Ich erinnere mich an den Kuss und ein Gefühl des Angehobenseins, als würden
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