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Strandglut 27 Short(s) Stories

Strandglut 27 Short(s) Stories

Titel: Strandglut 27 Short(s) Stories
Autoren: Nika Lubitsch
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Das alte Testament

    Als Verena die Anzeige in der Lokalzeitung sah, ließ sie vor Schreck ihr frisch aufgebackenes Sonntagsbrötchen fallen und bekleckerte ihren geblümten Bademantel mit Himbeermarmelade.
    „Adele Ott
    * 1917 - † 2012
    Plötzlich und unerwartet
    ist unsere geliebte Tante Adi
    von uns gegangen. Sie entschlief
    friedlich beim Lesen der Bibel.
    Wir werden sie vermissen.
    In tiefer Trauer
    ihre Familie
    Die Beisetzung findet in aller Stille am
    Montag, den 16. August statt.
    „Lüge, nichts als Lüge!“, schrie Verena, knallte die Zeitung auf den Tisch und rannte ins Badezimmer, wo sie versuchte, mit dem Waschlappen die rote, klebrige Masse aus ihrem Bademantel zu reiben. Aber es waren nicht die hartnäckigen Körner der Marmelade, die ihr vor Wut die Tränen in die Augen trieben.
    Verena war erst am vergangenen Abend von einem Besuch bei ihrer älteren Schwester aus Stuttgart zurückgekommen. Diese Teufel hatten ihren Urlaub genutzt, um Adele heimzuschicken. Von wegen plötzlich und unerwartet: Die trauernde Familie wartete seit 20 Jahren ungeduldig darauf, dass Tante Adi sich endlich verabschieden würde. Und seit 20 Jahren war sie, Verena Lehmann, ihr Schutzengel gewesen. Warum nur musste ihre alleinstehende Schwester sich gerade jetzt ein Bein brechen? Wo Adele Verena gerade versprochen hatte, ihr Testament zu ihren Gunsten zu ändern.
    Verena setzte sich auf den zugeklappten Deckel ihrer Toilette und heulte. 20 Jahre ihres Lebens hatte sie für die Ott gearbeitet. Zuerst als Haushälterin und später, als die Dinge für Adele ein bisschen beschwerlicher wurden, als ihre Pflegerin. Und jetzt? Verena schnaubte geräuschvoll in den Marmeladegetränkten Waschlappen. Jetzt war sie arbeitslos. Mit 57 Jahren! Aber viel schlimmer noch: das Testament, das Adele zu ihren Gunsten geändert hatte, sollte erst in der nächsten Woche notariell beglaubigt werden. Kam der feinen Familie ja ganz gut zu passe, dass Adele friedlich eingeschlafen war. Das war wahrscheinlich das einzig Friedliche, was Adele jemals in ihrem Leben vollbracht hatte.
    Verena schüttelte den Kopf. Nein, Adele wäre niemals friedlich eingeschlafen. Niemals! Sie hätte noch ihre letzten Sekunden genutzt, um die Familie spüren zu lassen, dass alles, was in dieser Familie geschah, ausschließlich sie zu bestimmen hatte. „Hier bestimme ich, solange ich lebe“, hatte sie mehr als einmal gesagt. „Diese unnützen Schmarotzer haben mir ihr halbes Leben lang Honig ums Maul geschmiert, ich hasse sie, einen wie die andere. Was meinst du, Verena, wie die gucken werden, wenn sich herausstellt, dass sie nur ein Taschengeld erben werden“. War es wirklich erst zwei Wochen her, dass Adi so zu ihr gesprochen hatte?
    Adele Ott würde nicht einschlafen, ohne den ihren eine gehörige Abreibung zu verpassen. Es war die Bosheit, die sie so lange am Leben erhalten hatte. Da war Peter, ihr Urneffe, der im ersten Stock in der alten Backsteinvilla auf 360 Quadratmetern mit seiner Frau Marion logierte. 360 Quadratmeter! Und der Kerl war Fahrer eines Rettungswagens! Wenn er den nicht gerade fuhr, dann chauffierte er Frau Marion in Adeles silbergrauer S-Klasse durch die Stadt. Und wenn er das nicht tat, dann stritt er sich mit seiner Schwester Lene, die auch nicht besser war als er. Die lebte ebenfalls auf 360 Quadratmetern im Obergeschoss der Villa und stritt außer mit ihm am liebsten mit ihrem versoffenen Ehemann Detlef, diesem pensionierten Tennislehrer. Die heilige Familie. Von den Kindern der beiden Ehepaare sah und hörte man seit Jahren nichts mehr.
    Adele war vor zwei Wochen noch fitter gewesen als ihre gesamte Familie zusammen. Natürlich brauchte sie regelmäßig ihre Medikamente gegen die schwere Gicht, die sie fast bewegungsunfähig gemacht hatte. Herz und Verstand hatten bei Adele funktioniert wie ein gut geöltes Uhrwerk, sie hatte nicht mal Alterszucker. Entschlossen stand Verena von ihrem ungemütlichen Sitzplatz auf und tapste in ihr Wohnzimmer. Mit zitternden Händen suchte sie in ihrem zerfledderten Telefonverzeichnis nach der Nummer von Dr. Daniel, der nicht nur ihr sondern auch Adeles Hausarzt war. Dr. Daniel diagnostizierte am Telefon, dass die heulende, stammelnde Verena wegen Frau Otts unerwartetem Tod einen Schock erlitten habe und versprach, in einer halben Stunde mit einem Beruhigungsmittel vorbeizukommen. Zeit genug für Verena, sich vorzubereiten. Ihre Gedanken rasten. Als Dr. Daniel klingelte, hatte sie ihre Strategie zurecht
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