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Meine erste Luege

Meine erste Luege

Titel: Meine erste Luege
Autoren: Marina Mander
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An manchen Tagen
    An manchen Tagen frage ich mich: Was heißt es, Halbwaise zu sein?
    Ihr könnt es nicht wissen, weil ihr seid groß.
    Ihr habt Eltern, die schon wie Großeltern aussehen, ihr habt eine Wohnung und könnt in alle Zimmer der Wohnung gehen, ihr habt ein Auto, um wegzufahren, ihr könnt so viele Dinge vergessen.
    Mama sagt immer: Ich weiß noch. Aber ich bin mir da nicht so sicher; manchmal kommt es mir wirklich so vor, dass sie überhaupt nicht mehr weiß, wie es einem in meinem Alter geht. Das passiert den Erwachsenen oft.
    Die Schlimmsten sind die, die sich über deine Spiele hermachen und nicht mal wissen, wie man spielt. Sie wollen gewinnen und sie können überhaupt nicht verlieren. Wenn es anfängt, dir Spaß zu machen, fällt ihnen ein, dass sie was Dringendes zu erledigen haben … Sie haben ihr Auto oder ihr Kind irgendwo gelassen, wo es nicht bleiben kann.
    Â»Tut mir leid, Schatz, aber jetzt muss ich wirklich los.«
    Noch schlimmer sind die, die dich nicht beachten und sich mit Mama im Schlafzimmer einschließen.
    Â»Wir gehen nach hinten und unterhalten uns ein bisschen.«
    Sie sagen, sie müssen reden, aber ich weiß genau, dass sie Sex machen, weil sie ganz sachte den Schlüssel im Schloss umdrehen und ganz wenig sprechen, und manchmal wimmert Mama und macht »pssst!«
    Mama denkt, dass ich nichts mitbekomme, weil ihr Zimmer am Ende vom Flur ist. Aber nun ist klar, dass ich immer achtgeben muss, damit ich weiß, was los ist. Ich setze das Ohroskop ein. Das ist wie ein Periskop, aber man nimmt es für die Ohren und versucht, die Kleinigkeiten mitzukriegen. Das Ohroskop ist kein richtiges Instrument, sondern eine ziemlich spezielle Haltung, man hört dann ganz von allein mehr. Über mich sagen alle, was für ein sensibler Junge ich bin. Ich weiß auch nicht, ob das ein Kompliment ist oder nicht. Sie behaupten es zwar mit einem Lächeln, aber etwas Trauriges hinter diesem verständnisvollen Lächeln sagt mir, dass sie gar nichts kapiert haben. Ich trainiere das Sensibel-sein, da stellen die Antennen sich von ganz allein auf.
    Ich habe gelernt, dass die Kleinigkeiten mehr sagen als die Dinge selbst, und wenn du auf die Kleinigkeiten achtgibst, kannst du die Erwachsenen überzeugen, dass alles in Ordnung ist. Sie glauben dir, weil die Kleinigkeiten bei dir alle stimmen.
    Falsche Kleinigkeiten sind: ungekämmte Haare, schmutzige Hefte, Bücher mit Eselsohren, Schrammen und schwarze Fingernägel, schmutzige Wörter.
    Die Erwachsenen haben es besonders mit den schmutzigen Wörtern. Meistens sind die Wörter, die die Erwachsenen schmutzig finden, nicht dieselben wie meine.
    Â»Du sollst keine Schimpfwörter in den Mund nehmen.«
    Â»Das sind keine Schimpfwörter, es stimmt einfach nur.«
    Arschgesicht ist der Beweis dafür. Wenn einer wirklich ein Gesicht hat, das wie ein Arsch aussieht, mit dieser Ritze zwischen den Nasenlöchern und Haut so rosa wie Nonnenschlüpfer, ist das nicht meine Schuld.
    Auch »Schweinsdreck« sage ich ziemlich gerne, das ist irgendwie beruhigend. Es ist, als würde man zweimal hintereinander »wie eklig, wie eklig« sagen, oder so wie Hundekacke auf dem Bürgersteig. Die vom Nachbarshund zum Beispiel ist riesengroß, da wunderst du dich und ekelst dich gleichzeitig, so richtig Schweinsdreck eben. Aber wenn man so was wie »Zicke« sagt, dann ist das wie Niesen, wenn dich seit einer halben Stunde die Nase juckt. Eine Zicke ist so eine wie Antonella, nur dass das klar ist. Sie sieht klasse aus, hat blonde, lange, glatte Haare und Grübchen, wenn sie lächelt, aber sie lächelt dich nie an, als ob du Schweinsdreck wärst. Oma hat mich auch immer in die Backen gekniffen, damit ich Grübchen kriege.
    Â»Komm doch mal her, dann mache ich dir Grübchen wie Cary Grant.«
    Â»Lass mich in Ruhe, ich will keine Grübchen, ich finde Grübchen beschissen.«
    Ich laufe um den Tisch herum, stolpere über die Stuhlbeine, verstecke mich hinter den polierten roten Äpfeln in der Obstschale mit den verschiedenen Etagen wie eine Hochzeitstorte.
    Â»Du kriegst mich nicht, alte Hexe.«
    Â»Das sagt man nicht zu seiner Oma, du ungezogener Junge.«
    Â»Hexe, Hexe, morgen verreckt se.«
    Â»Wo hast du so was bloß her?«
    Den Erwachsenen gefallen bestimmte Wörter nicht, und inzwischen habe ich gelernt, sie nicht mehr zu sagen, wenn
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