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Wenn du mich brauchst

Wenn du mich brauchst

Titel: Wenn du mich brauchst
Autoren: Jana Frey
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entschuldigte sich sofort und sorgte für weitere Gläser. Ich stellte Chajm unterdessen Sharoni vor.
    Im Hintergrund hörten wir, wie meine Mutter ihre Schwester in Israel anrief. »Alles wird gut, Rahel«, sagte sie beschwichtigend. »Weine nicht mehr. Beruhige dich. Ja, er ist wohlauf, wie es scheint.«
    »Das kannst du doch nicht tun, Chajm! Davonlaufen! Dich drücken! Dein Land im Stich lassen!«, schimpfte unsere Großmutter inzwischen ungehalten mit ihrem sechsten Enkel, der als Kleinkind ihr Lieblingsenkel gewesen war.
    »Nun schrei ihn doch nicht so an, Sarah«, sagte Esther, die schon im Wohnzimmer gewesen war, bevor wir hereingekommen waren. Dort hatte sie in ihrem Sessel sitzend uns blass und schweigend und ärgerlich zugehört.
    »Ach, jetzt sprichst du also wieder, Mutter?«, regte sich meine Großmutter auf und fuchtelte mit den Händen.
    Esther lächelte Chajm zu. »Schön, dass du gekommen bist«, sagte sie.
    »Danke, Esther«, sagte Chajm und lächelte ebenfalls zum ersten Mal.
    »Manchmal muss man sprechen«, sagte Esther nachdenklich zu ihrer einzigen Tochter und bedachte sie mit einem langen, eigenartigen Blick. Und damit schwieg sie wieder.
    »Haben sie dir beim Militär derart zugesetzt?«, fragte mein Vater unterdessen und tischte Chajm etwas zu essen auf. Draußen schwand bereits die Nacht. Der Himmel wurde silbrig grau und erste Vögel begannen, sich zu regen.
    Chajm zuckte mit den Achseln. »Ich habe Schlimmes gehört über das, was sie mit Verweigerern tun, aber bei mir waren sie eigentlich ganz human. Aber das ändert nichts daran, dass ich keine Waffe in die Hand nehmen werde.«
    Sein Blick hatte sich beim Sprechen wieder verfinstert.
    »Was hast du also vor?«, erkundigte sich mein Vater und setzte sich Chajm gegenüber.
    »Ich gehe erst zurück, wenn sie mich mit diesem Militärscheiß in Ruhe lassen«, antwortete er prompt und würgte seinen angefangenen Bissen herunter, als habe er plötzlich einen Kloß im Hals. »Und wenn das nie ist, gehe ich nie zurück.«
    Mein Vater nickte und ich liebte ihn für dieses Nicken. Es war ein echtes, mitfühlendes, aufrichtiges Nicken.
    Außerdem freute ich mich schrecklich, Chajm zu sehen. Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass er wirklich gekommen war.
    Es war schon fast sechs, als wir alle ins Bett gingen. Nur Jonathan schlief schon eine Weile auf dem alten Sofa, zugedeckt mit Esthers Wolldecke. Der Himmel war von einem sanften, milchigen Rosa. Ich brachte Chajm, der vor Müdigkeit schwankte, in unser Gästezimmer, während Shar im Bad war. Er war ja zum ersten Mal in unserem Haus, zum ersten Mal in den Staaten, zum ersten Mal außerhalb Israels.
    »Sorry, aber ich bin seit über fünfzig Stunden auf den Beinen«, sagte er, als wir nebeneinander die Treppe hinaufgingen und er ein paar Mal gegen mich taumelte. »Aber es ist schön, dich zu sehen, Blondie«, fügte er leise hinzu, als wir das Zimmer erreichten. »Ich habe ein paar Mal versucht, dich bei Facebook im Chat zu erreichen, aber du warst nie da. Ich wollte dir so viel schreiben. Über das Militär. Über meine Wut. Meine Angst. Und über meinen Plan, Israel zu verlassen.«
    Ich nickte stumm. Chajm war die erste positive Veränderung, die diese Verwechslungsgeschichte mit sich brachte. Obwohl ich nicht genau wusste, was anders war, spürte ich, dass etwas anders war.
    »Rahel hat mich übrigens auf dem Laufenden gehalten über das, was hier bei dir passiert ist«, sagte Chajm plötzlich wieder auf Hebräisch.
    »Ich weiß«, antwortete ich. »Ich habe gehört, wie Delia mit ihr telefoniert hat.«
    »Die Geschichte hat einen Riesenwirbel bei uns verursacht«, erzählte Chajm. Er legte seinen Rucksack auf den Stuhl im Gästezimmer, blieb vor mir stehen und wickelte kurz eine meiner Haarsträhnen um seinen Zeigefinger.
    Ich schwieg zu dieser Aussage, aber ich hatte plötzlich Herzklopfen.
    »Jochanan und Hadassa haben beide deinetwegen geweint«, erzählte Chajm und jetzt lächelte er wieder. Er ließ meine Haare los und sank auf das Gästebett.
    »Blöd, dass ich nur so wenig mitnehmen konnte«, murmelte er dabei und öffnete die Schnürsenkel seiner Turnschuhe. »Nicht mal meine Bücher konnte ich einstecken. Alles musste ganz schnell gehen. Und so unauffällig wie möglich.«
    Jochanan und Hadassa waren ebenfalls Geschwister unserer Mütter und beide sehr gläubig. Ich setzte mich auf die Kante des zweiten Stuhles, weil ich mich auf einmal ganz wackelig fühlte.
    »Hadassa war
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