Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
Vom Netzwerk:
Lebenssituation einen Song. An dem Abend nach der Aufführung war sie wie selbstverständlich zusammen mit Mick nach Hause gegangen. Er wohnte in einem maroden Hinterhaus über einer Polsterwerkstatt. Es war ein einziges Zimmer mit großen, mehrfach unterteilten Fenstern, das über eine rostige Außentreppe zu erreichen war. »Wie in Amerika«, sagte Mick. Überall im Raum stapelten sich Bücher, Schallplatten und Tonbänder. Selbst in der Badewanne, die in einer Ecke stand, lagen Kartons mit Tonbandkassetten. Mick räumte einige Bücher beiseite, sodass sie Platz zum Liegen hatten, legte eine Platte auf und löschte das Licht. Er könne diese Musik nur nachts hören, sagte er, schließlich seien die Sänger ja schwarz. Und dann lagen sie im Dunkeln nebeneinander auf den Dielenbrettern und hörten Blues. Besser: Sie fühlten den Blues. Die tiefen Töne strichen über ihre Haut und bestimmten den Herzschlag. Sie hatte das Gefühl zu schweben. Der Mond schien durch die Fenster, und die Metallstreben warfen ein Muster. Es sah aus wie die Takelage eines großen Segelschiffs. Im Mondschein fuhren sie über den Ozean, die Wellen schlugenim Rhythmus gegen den Bug. Befreit von allen Ufern trieben sie durch die Nacht.
    Sofort wenn eine Plattenseite abgelaufen war, stand Mick auf. Er sprach nicht und schien gar nicht zu bemerken, dass Roswitha im Raum war. Sie begann zu ahnen, was ihr später zur Gewissheit wurde, nicht die anderen Lemming-Frauen waren eine Konkurrenz für sie, sondern die unzähligen Schallplatten, die sich in seinem Zimmer stapelten, immer nur zwanzig Stück übereinander, so wie es auf der Hülle empfohlen wurde. War Mick ansonsten in allen Dingen nachlässig, behandelte er seine Schallplatten wie Schätze. Vorsichtig zog er sie in der Schutzhülle aus dem Cover, ließ sie aus dem Papier gleiten und hielt sie mit gespreizten Fingern zwischen seinen Händen, als wäre es bei Todesstrafe verboten, einen Fingerabdruck auf dem Vinyl zu hinterlassen. Sanft streichelte er mit einem Tuch die Stäubchen von der sich drehenden Platte, balancierte den Tonarm auf einem Finger und setzte ihn behutsam an den Anfang. Nicht ein einziges Mal rutschte die Plattennadel ab, und nicht ein einziges Mal begann ein Titel zu spät.
    Eingehüllt in die Musik lagen sie bis zum Morgengrauen nebeneinander, ohne sich berühren, und doch hatte sie sich selten einem Mann so nah gefühlt wie in dieser Nacht.
    Sie schloss die Augen und versuchte sich an die Musik zu erinnern. Das Licht blendete, und sie zog ihre Sonnenbrille aus der Tasche. Was war das für eine verdammte Untergrundbahn, die über Tage fuhr? Sie blickte auf Hausdächer und Mauern, die von Stacheldraht begrenzt waren. Auf einem Vordach stand ein Mann und rauchte. Endlich fuhr der Zug in einen Tunnel.
    Sie lehnte sich zurück. Die Namen der Stationen kamen ihrunwirklich vor: Utica, Lafayette, Nassau. Befand sie sich wirklich in der richtigen Stadt? Sie war überrascht, als, wie angekündigt, pünktlich nach einer halben Stunde der eingezeichnete Umsteigebahnhof erschien. Sie schleppte ihren Koffer von einem Tunnel in den anderen, stieg in den nächsten Zug und war kurz darauf wieder an der Station Lafayette. Doch bevor sie in Panik geraten konnte, hielt der Zug an der Second Avenue. Mit dem Gefühl, von fremden Mächten gelenkt zu werden, stieg sie aus, wartete vorsichtshalber, bis alle durch das Drehkreuz gegangen waren, und hievte dann ihren Koffer unter die Schranke. In dem Moment, in dem sie mit ihren Körper gegen die Metallstange drückte, wusste sie, dass es ein Fehler war. Das Drehkreuz wurde seinem Namen gerecht, kippte mit seinen Metallarmen nach vorn und nahm den Koffer in Gewahrsam. Die Lage war prekär. Es fehlten wenige Millimeter. Sie nahm den Nachbarausgang und versuchte an dem Koffer zu ziehen. Vergeblich. Der Koffer stand auf der einen und sie auf der anderen Seite, und da sie kein neues Ticket hatte, war eine Rückkehr unmöglich. Sie verwarf den Gedanken, über die Schranke zu steigen. Sie hatte Angst, einen Alarm auszulösen oder in das Visier einer Selbstschussanlage zu geraten, und musste warten, bis der nächste Zug einfuhr und Passanten kamen und ihr halfen.
    Befreit schleifte sie ihren Koffer die Treppe nach oben und entstieg, eingehüllt in die Abgaswolke eines Trucks, der Erde. Sie nahm es als Kunstnebel und dachte: Das ist also New York!
    Es war immer noch ein warmer Spätsommertag. Die Blätter der Bäume leuchteten in hellem Gelb. Kleine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher