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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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wegen ihrer Gesinnung auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden? Einen Tod, den sie inbrünstig im Musikunterricht besungen hatte. »Maintenant Nicola e Bart …«
    Und vor allem, wie sollte sie einem Grenzbeamten erklären, dass sie ihren Besuch nach so vielen Jahren nicht einmal angekündigt hatte?
    Wladimirs Frage am Scheidungstag war ein Saatkorn gewesen. Die keimende Hoffnung, mit einem Besuch bei Mick könne sie sowohl mit ihrem alten Leben abschließen, als auch ein neues beginnen.
    Ende und Anfang. Von diesem Gedanken beseelt war sie, ohne zu überlegen, einfach losgerannt. Einem Kind hätte man Unbedachtheit vorgeworfen und es belehrt, seine Entscheidungen besserzu überdenken. Sie hatte sich, im Alter einer Großmutter, bar jeder Vernunft, ohne jegliche Vorbereitung auf diese Reise gemacht.
    Auch damals, nach jener merkwürdigen Begegnung auf dem Hochschulhof, hatte sie das Gefühl gehabt, etwas zu tun, das alles verändern würde. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, nicht zu dem Treffen zu gehen, hatte sie am nächsten Tag brav ihre FDJ-Bluse in die Tasche zwischen die Hefter gestopft. Zwar widerwillig, aber sie war der Aufforderung gefolgt.
    »Mick wie … du weißt schon« lehnte an der Eingangstür zum Seminargebäude. Er zog sie an einer Hand die Treppe nach oben in ein Zimmer in der letzten Etage. »Unser Probenraum«, sagte er und öffnete die Tür.
    Auf den an den Rand geschobenen Bänken saßen junge Frauen und sahen ihm erwartungsvoll entgegen.
    »Mein Ensemble«, sagte er mit einer generösen Handbewegung. Und sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, auf welche Weise er die Frauen angeworben hatte.
    Auf einer Wäscheleine hingen handgemalte Plakate zum Trocknen:
    »Freiheit auf Befehl ist wie Kuchen ohne Mehl«, »Dummheit auf der Leiter klettert immer weiter«, »Wird ein Wort aus Angst vermieden, braucht’s kein Gesetz, es zu verbieten«. Parolen, die nicht unbedingt von kommunistischer Gesinnung zeugten. War sie in eine Dissidentenzelle geraten? Plante er eine staatsfeindliche Aktion, oder wollte er sie auf die Probe stellen?
    »Wir führen heute Abend Tierfabeln auf!«, sagte Mick, zog ein schmales Buch aus seiner Hosentasche und zeigte auf den Titel: »Der Esel als Amtmann«.
    »Alles ostzonal«, sagte Mick und grinste.
    »Ostzonal«, fast hatte sie dieses Wort vergessen. Es war eines seiner Lieblingswörter gewesen. Jazzhaft, Bluesbrüder, ostzonal. Mick kokettierte mit dem Leben im deutschen Osten. Er trug nicht Jeans wie alle anderen, sondern blaue Stoffhosen mit Bügelfalte, die er »Busfahrerhosen« nannte, dazu graue Feinrippunterhemden »halber Arm« und darüber die zu große »Präsent-20«-Jacke seines Vaters, an deren Revers eine Mainelke vom »VEB Kunstblume« steckte.
    Die ostzonale Verkleidung hob ihn aus der Masse der anderen Studenten, die sich mühten, mit ihren oft selbst genähten Jeans möglichst »westlich« zu wirken. Was bei jedem anderen die Anmutung eines Parteifunktionärs gehabt hätte, wirkte bei Mick, als wäre er der Modewelt Jahrzehnte voraus.
    Und tatsächlich würde er heutzutage große Chancen haben mit seinen Sachen von »damals«. Schon allein unter den Lemmingen in der Warteschlange fanden sich mehrere Kandidaten für einen ostzonalen Modewettbewerb. Es gab einen jungen Mann mit einem Lederhütchen à la Honecker und ein Mädchen, das in seinem bonbonfarbenen Rundstrickkleid aussah, als wäre es auf dem Weg zur Jugendweihe. Niemand litt mehr beim Optiker unter einem dicken schwarzen Kassengestell, sondern kaufte es sich freiwillig als Designerbrille. In den Gebrauchtwarenläden standen Schalensessel und Nierentische, und wahrscheinlich würde der Tag kommen, an dem sich alle erneut nach »Doppelliege Dagmar« und »Schrankwand Kompliment« verzehrten. Auch FDJ-Blusen waren wieder im Angebot und wurden von Touristen aus aller Welt als Souvenir mit nach Hause genommen, um den Schrecken des Ostblocks zu zeigen. Wahrscheinlich stellten sie sich dabei peitschenschwingende Monster vor, die ihre einheitlich gekleidete Jugend in Schach hielten.
    Was sie nicht ahnten: Das Grauen im Sozialismus war die Langeweile gewesen, die Berechenbarkeit des bevorstehenden Lebens. Schon bei der Immatrikulation stand für Roswitha fest, dass für sie nach dem Studium eine Arbeitsstelle in einem volkseigenen Kombinat bereitstand, die sie bis an ihr Lebensende behalten würde. Dazu kamen ein kleinbürgerliches Familienleben und Urlaubsreisen, die sich in einem
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