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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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vorgegebenen Radius abspielten. Der Alltag im Land der Lemminge war überschaubar. Umso gewaltiger waren die Worte, die wie eine Wolke über dem Land schwebten. »Höher, schneller, weiter!« Als »Sieger der Geschichte« waren sie angetreten, die Besten der ganzen Welt zu werden, und bewiesen sich ihre Überlegenheit in Wettbewerben, die eigens geschaffen worden waren, um die Langeweile erträglich zu machen. Einmal abgesehen von den Wettspielen im Kindergarten, den Schulsportfesten, der Prämierung des schönsten Faschingskostüms und den Mathematikolympiaden, befanden sich alle im ständigen Kampf um Auszeichnungen und Prämien. Schüler kämpften um das »Abzeichen für gutes Wissen« und um eine »Staatsratsurkunde« für den besten Zensurendurchschnitt. Hausgemeinschaften kämpften um eine »Goldene Hausnummer«, die anzeigte, in welchen Häusern Menschen lebten, die ihre Gehwege sauber hielten und zum Republikgeburtstag Wimpelketten aufhingen. »Schöner unsere Städte und Gemeinden – Macht mit!«. Betriebskollektive kämpften um den Titel »Kollektiv der sozialistischen Arbeit«. Wer sich besonders hervortat, wurde »Aktivist« und als Steigerung »Held der Arbeit«. Es gab »Verdiente Lehrer des Volkes«, »Verdiente Metallurgen des Volkes«, »Verdiente Erfinder des Volkes«, »Verdiente Militärflieger des Volkes«, »Hervorragende Genossenschaftler des Volkes«. Und es gab die »Medaille für Verdienste im künstlerischenVolksschaffen«. Und so war es eine logische Folge, dass die künstlerischen Darbietungen an der Hochschule nicht einfach so »über die Bühne gehen« konnten, sondern nur als Wettbewerb. Der Direktor höchstpersönlich eröffnete den »Kulturellen Wettstreit« im Hörsaal. Er war ein kleiner, schwitzender Mann mit hängenden Schultern, bei dem selbst eine bügelfreie Polyesterjacke aussah, als hätte er damit eine Woche lang unter einer Brücke geschlafen. Stoisch las er seine aus den üblichen Floskeln bestehende Eröffnungsrede vor. Der Hörsaal war überfüllt, denn hier galt das Motto »Sehen und gesehen werden«. Man wusste nie, wozu es gut war.
    »Kunst als Waffe« stand in angehefteten Pappbuchstaben auf dem Vorhang hinter der Bühne, und Mick hatte beschlossen, diese Losung in die Tat umzusetzen.
    Zuerst trat die Singegruppe auf, dann der Literaturzirkel, dann die Tanzgruppe. Das Publikum gab schläfrigen Applaus und war in Gedanken schon bei der anschließenden Feier im Studentenklub. Dann kam Mick. Er betrat lässig die Bühne, zupfte an seiner Jacke, die, bis auf die Knitter, der des Direktors glich, blies imaginären Staub von der Mainelke in seinem Knopfloch und kündigte sein Programm an: »Fabelhaft«.
    Ein Mädchen im Minikleid lief als Nummerngirl vor jeder Szene am Bühnenrand entlang und zeigte den Titel der Fabel an. »Wer sich hinter der Zeit versteckt, wird auf unsanfte Art geweckt«.
    Mick stand kerzengerade wie ein Soldat hinter dem Rednerpult und las mit ernster Stimme die Fabeln aus dem Buch vor, während Mädchen mit Pantomime die jeweiligen Tiere darstellten. Es hätte einen Hauch Kindergeburtstag gehabt, hätten sie dabei nicht FDJ-Blusen getragen. Im Zeichen der aufgehendenSonne stellten sie die mit Macht gepaarte Dummheit im Tierreich dar. »Auch hohe Tiere müssen mal aufs Örtchen, nur tun sie oft, als schissen sie ein Törtchen«.
    Zum Schluss kamen die Lemminge. Sie irrten im Gänsemarsch über die Bühne und versicherten sich gegenseitig, dass sie auf dem richtigen Weg seien. Und auch als der erste Lemming über den Rand in einen imaginären Tod stürzte, folgten die anderen weiter dem vorgegebenen Pfad, bis sie an der Reihe waren, in den Abgrund zu fallen. Mit flatternden FDJ-Hemden sprangen sie vor die Füße des schwitzenden Direktors und seines Kollegiums und riefen auf den Weg ins Verderben voller Inbrunst: »Wir fliegen! Wir fliegen!«
    Zusammen mit einem fremden Mann trat Roswitha an die Demarkationslinie, bereit für die Aufteilung.
    »Sie gehören zusammen?«
    »I’m alone now.«
    Die Beamtin schien keine Musikfreundin zu sein. Sie guckte irritiert, als erwartete sie eine weitere Erklärung.
    Roswitha wurde Schalter 11 zugeteilt. Sie wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Zwei aufeinanderfolgende Spazierstöcke, die kleinste zweistellige Primzahl, die Zahl 11, die für diese Stadt zum Verhängnis geworden war. Aber immerhin hatte New York City 11 Buchstaben.
    Mit gespielter Gleichgültigkeit reichte sie ihren
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