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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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aufgeklappten Pass über den Schaltertisch. Der Beamte, ein kleiner, mürrischer Mann – waren nicht kleine Männer am gefährlichsten? –, nahm ihn mit einer abrupten Bewegung, starrte eine Ewigkeit auf den Namen und wies dann auf eine Vorrichtung. Stumm, als wäre sie eine Idiotin, streckte er ihr in Augenhöhe Daumen und Zeigefingerseiner rechten Hand entgegen und simulierte das Nehmen der Fingerabdrücke. Sie presste, wie verlangt, zuerst den Daumen und dann den Zeigefinger auf das Pad. Zu ihrer Überraschung hinterließ die digitale Verbrecherjagd keine Spuren, und ihre Fingerkuppen blieben sauber. Der Beamte wiederholte die Pantomime für die linke Hand. Dann las er wieder mit regungslosem Gesicht in ihrem Pass. Endlich griff er nach dem Stempel. Er ließ ihn wie eine Guillotine auf das Papier sausen und schob ihr, immer noch wortlos, den Pass über den Tresen, als wäre er ein Almosen. Eine unmissverständliche Handbewegung in Richtung Ausgang, und sie war entlassen. Einerseits war sie erleichtert, andererseits fand sie es eine Unverschämtheit, dass sie nicht einmal eine Frage wert gewesen war.
    Nachdem sich der letzte Lemming in den Abgrund gestürzt hatte, war Mick an den Bühnenrand getreten und hatte sich verbeugt.
    Genau in dem Moment, in dem die Studenten ihre Hände zum Klatschen hoben, standen der Direktor und alle Dozenten gleichzeitig auf. Die Hände der Zuschauer verharrten einige Sekunden in der Luft und sanken dann wieder zurück. Schweigend, ohne noch einmal zur Bühne zu sehen, liefen die Dozenten im Mittelgang zur Tür. Kurz bevor sie den Saal verließen, stand ein rothaariger Junge in der dritten Reihe auf und rief in die eisige Stille: »Bravo!«
    In den folgenden Wochen warteten sie auf ihre Bestrafung. Doch vonseiten der Direktion herrschte Schweigen. Sie hatten mit einer Vorladung gerechnet, mit einem Verweis, im schlimmsten Fall mit einer Exmatrikulation, doch stattdessen geschah – nichts. Sie hatten in Drachenblut gebadet und wussten nicht, an welcher Stelle ihnen das Blatt auf den Rücken gefallen war.
    Die Lemminge aus dem Flugzeug waren plötzlich verschwunden. Sich selbst überlassen, suchte Roswitha zwischen den abgestellten Koffern nach ihrem Gepäck. Warum war eigentlich Schwarz die Farbe des Reisens? Wie einen störrischen Hund zog sie den Koffer zum Ausgang. Wenigstens ein Lebewesen, dachte sie. Und während sie überlegte, welche Hunderasse ihr Koffer haben könnte, wurde ihr bewusst, dass sie das erste Mal in ihrem Leben allein reiste. Immer war jemand dabei gewesen. Und nun? Nun war sie, von allen guten Geistern, Freunden, Kindern und Männern verlassen, allein auf Reisen gegangen. Vergeblich suchte sie nach einer Hinweistafel, die anzeigte, auf welchem Weg sie in die Stadt kommen würde.
    Am Ende des Glastunnels saß eine ältere Frau hinter einem kleinen Pult. Sie wirkte wie die Etagenverantwortliche in einem russischen Hotel, und Roswitha war nicht sicher, ob sie sich herablassen würde, eine Wegbeschreibung zu geben. Eingeschüchtert zeigte sie ihr die Adresse ihrer Pension. Die Reaktion war überraschend. »How are you?«, rief die Frau überschwänglich, als wäre Roswitha eine seit Langem erwartete Bekannte. Glücklich darüber, dass sich endlich jemand für sie interessierte, spulte Roswitha alle über ihr Befinden angelernten Sätze ab.
    »Sie sind das erste Mal in Amerika?«, fragte die Frau und lächelte. Dann zeichnete sie den Weg zur Pension in einen Stadtplan ein. Zuerst sollte sie mit dem »Airtrain« zum »A Train« fahren. Die Frau reichte Roswitha den Plan. Die Station heißt »Howard Beach«, sagte die Frau. »Wer auch immer Howard war.«
    Roswitha war die Einzige auf dem Bahnsteig: Ein Papierkorb, ein Nichtraucherschild, eine Sitzbank. Vielleicht war die Stadt garnicht so groß, wie alle immer behaupteten. Sie stellte ihren Koffer neben die Bank. Es war so warm, dass sie ihre Jacke ausziehen konnte. Ein Spätsommertag mitten im Oktober. Sie lief auf und ab, behielt aber, im Wissen um die Gefährlichkeit der Stadt, den Koffer im Blick. Der Angriff kam aus der Luft. Unversehens ließen sich zwei Sperlinge nieder und pickten gegen den Koffergriff. Das Klopfen mischte sich mit dem Summen der Schienen, und sie bekam plötzlich Angst, dass in wenigen Augenblicken der Regionalzug nach Eilenburg einfahren würde. Sie war erleichtert als sie das A an der Frontscheibe erkannte. »Take the A Train.«
    »Hurry, get on, now, it’s coming«. Es gab für jede
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