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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Sonnen, unter denen neben einer Imbissbude Leute auf Gartenstühlen saßen, Kaffee tranken und ihr Gesicht mit geschlossenen Augen nach oben reckten, als würden sie einen Segen empfangen. Sie schlurfte mitihrem Koffer über heruntergefallene Blätter. Die Pension lag in einer Nebenstraße. Es waren niedrige Häuser, zwei, drei Stockwerke hoch. Am Fuß der Straßenbäume wuchsen Astern und Zierkohl, und manchmal war ein buntes Band um den Stamm gebunden. Sie suchte nach ihrer Pension und stellte fest, dass es viele Türschilder mit polnischen Namen gab. Vor der »Pension Anna« stand eine Büste von Johannes Paul II. Daneben führte eine Treppe nach unten ins Souterrain.
    Eine kleine Frau mit einem Dutt, der wie ein Kaffeewärmer auf ihrem Kopf thronte, öffnete die Tür. »How are you?«, fragte sie mit harten osteuropäischen Akzent und lief, ohne eine Antwort abzuwarten, durch verwinkelte Gänge voraus. Roswitha folgte ihr, bemüht, mit dem Koffer keine Schramme an der Wand zu hinterlassen. In einer Nische am Ende eines Flures stand ein Schreibtisch. Frau Annas Büro.
    Sie suchte in einem Karteikasten nach der Reservierung und legte das Formular zum Unterschreiben auf den Tisch. Ungelenk wie eine Erstklässlerin setzte Roswitha ihre Unterschrift auf das Papier. Roswitha Sonntag. Der Name klang fremd und vertraut zugleich. Er gehörte zur ersten Hälfte ihres Lebens. Unsere Rosi, das Sonntagskind, dem jahrelang verschwiegen wurde, dass es an einem Montag zur Welt gekommen war. Auch Mick hatte Gefallen an ihrem Namen gefunden. Rose Sunday, mit diesem Namen werden sie dich in Amerika lieben, hatte er ihr versprochen. Und sie hatte gelacht und gesagt, dass er der Einzige bleiben würde, der sie so nannte. Sie hatte ihrem Namen keine Bedeutung beigemessen und ihn bei ihrer Hochzeit mit Wladimir Kleinschmidt widerstandslos geopfert.
    Alles auf Anfang, hatte sie sich nach der Scheidung vorgenommen und als ersten Schritt mit der Rückübertragung ihres Mädchennamens begonnen. Hatte sie gehofft, sie würde auf diese Weise wieder zu einer jungen Studentin werden?
    Überraschend geschah die Namensänderung im Zeitalter der elektronischen Medien per Hand. Die Standesbeamtin schlug den schweren Archivband auf, nahm ein Lineal und einen Stift und strich mit Schwung den Eintrag aus dem Buch, wie eine Lehrerin, die eine zu Unrecht gegebene Note aus dem Klassenbuch tilgte.
    Frau Anna guckte nicht einmal auf die Unterschrift. Ihr war es egal, wie Roswitha hieß, Hauptsache, sie bezahlte die beiden Übernachtungen im Voraus.
    Das Zimmer war nur wenig breiter als das Bett. Vor dem Wandschrank stand ein Stuhl, und auf der gegenüberliegenden Seite führte eine schmale Tür in ein winziges Badezimmer. Das einzige Fenster zog sich als schmaler Streifen unter der Decke über die Wand. Sie blickte durch Gitterstäbe direkt auf die Füße der Passanten, die in Augenhöhe neben ihrem Bett über den Gehweg schwebten. Sie musste den Koffer halb ins Bad schieben, um überhaupt die Tür schließen zu können. Sie legte sich auf das Bett und hörte auf die Schritte aus der Oberwelt. Das Licht fiel auf einen verblichenen Kunstdruck, der über dem Fußende hing. Eine breite Straße mit flanierenden Menschen, die den Blick auf einen getupften Eiffelturm frei gab. Paris im Frühling. Sie lag in einem New Yorker Souterrain und sah wie durch ein Guckloch zurück nach Europa. Warum hingen in den meisten Hotelzimmern Bilder von Städten, in denen man sich gerade nicht befand? War es eine Methode, zum Reisen zu animieren? Oder sollte eseinem das Gefühl geben, nirgendwo zu Hause sein? Die Rastlosigkeit des Reisens. Galt immer noch Else Lasker-Schülers Spruch: »Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen«?
    Ihre Gedanken verfingen sich in den Worten.
    Als sie aufwachte und die Augen öffnete, sah sie Schatten über die Wand huschen. Sie hatte Mühe, zu begreifen, wo sie war. Die Lichtkegel der Autos kreuzten sich an der Decke, bildeten vergängliche Muster. Sie war wieder das Kind, das am Abend in seinem Bett lag, sehnsüchtig nach dem geheimnisvollen Leben, das sich auf der Straße abspielte. Die Welt außerhalb des Kinderzimmers erschien ihr voller Licht, voller Freiheit. Ein Kaleidoskop, das man nur schütteln brauchte, und schon sah man ein neues verführerisches Bild.
    Über ihrem Kopf gab es ein schmatzendes Geräusch, und an der Wand liefen Monstertatzen entlang. Sie brauchte eine Zeit lang, um zu begreifen, dass nur ein
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