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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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mit »I can’t get no satisfaction« zu antworten. Wobei es durchaus den Kern getroffen hätte. Oder was brachte eine fünfzigjährige Frau dazu, nach ihrer Jugendliebe zu suchen? Wiesollte sie einem Grenzbeamten erklären, was sie sich selbst nicht erklären konnte? Ich befinde mich auf einer Scheidungsreise? Was war eigentlich das Gegenteil von Honeymoon? »The dark side of the moon«?
    Eigentlich war diese Reise Wladimirs Idee gewesen. Nach dem Scheidungstermin hatten sie noch einige Minuten vor dem Gerichtsgebäude gestanden, unschlüssig, ob sie sich nach fünfundzwanzig Jahren Ehe zur Verabschiedung nur die Hand geben oder sich umarmen sollten. Bevor sie sich für eine Variante entscheiden konnte, hatte es plötzlich zu regnen begonnen, und sie hatte gezögert und gedacht, dass sie es mit einem Sprint noch zu ihrem Auto schaffen würde. Doch das hätte diesem Abschied den Anschein einer Flucht gegeben, und warum sollte sie vor einer Ehe wegrennen, die gerade im Namen des Volkes geschieden worden war? So war sie Wladimir in das gegenüberliegende Café gefolgt. In der »Letzten Instanz« war alles auf die Laufkundschaft von der anderen Straßenseite abgestimmt. Als Mittagstisch gab es »Kurzen Prozess« und »Schuld und Sühne«, und die Getränke hießen »Einspruch«, »Meineid« und »Hauptzeuge«.
    Wladimir bestellte sich »Schuld und Sühne«, was sich als Kartoffelbrei mit Grützwurst herausstellte. Wie immer lud er die Gabel zu voll, und sie sah zu, wie er auf dem Weg zum Mund den Kartoffelbrei wieder auf den Teller verlor.
    »Bereust du eigentlich, dass du mich geheiratet hast?«, fragte sie.
    Er ließ die Gabel abrupt sinken, überlegte eine Weile und sagte dann: »Nein.«
    »Auch wenn du gewusst hättest, was alles geschehen würde?«
    »Auch dann nicht.«
    Er schob einen neuen Berg Kartoffelmus auf seine Gabel, hieltaber noch einmal inne und sah sie an. Er war hager geworden. Die Haare hatten sich auf den hinteren Teil des Kopfes zurückgezogen, und sein kurzer Bart war grau. »Ich habe oft darüber nachgedacht«, sagte er, »aber wem hätte ich die Schuld geben sollen?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht mir?«
    »Es war Schicksal«, sagte er mit der Ehrlichkeit, für die sie ihn einmal geliebt hatte, und widmete sich wieder seinem Kartoffelbrei.
    Sie hörte, wie die Regentropfen gegen die Scheiben schlugen, und bestellte sich resigniert einen »Hauptzeugen«, der nach Farbverdünnung roch, aber laut Karte vorgab, ein Wodka zu sein. Wladimir sah interessiert zu, wie sie angewidert das Glas leerte und der Kellnerin erneut ein Zeichen gab.
    »Ich übe Zeugenaufruf!«
    Doch Wladimir lachte nicht. »Egal, wie viele Zeugen du noch aufrufst« sagte er, »dein Hauptzeuge wohnt in Amerika.«
    Sie sah ihn überrascht an.
    »Warum hast du Mick niemals besucht?«, fragte Wladimir.
    Wie eine alte Frau schlurfte sie an dem Seil entlang über den geriffelten Gummiboden. Ich bin fast dreißig Jahre zu spät, dachte sie. Wahrscheinlich gab es Träume, die man sich nie erfüllen sollte. Eine Beamtin in Uniform verteilte die Bittsteller an die Befragungsschalter. Sie trug weiße Handschuhe wie eine Verkehrspolizistin und dirigierte mit grazilen Bewegungen ein Ehepaar an die Nummer fünf, eine Mutter mit Kind an die Nummer acht. Trotz der Handschuhe gab es nie eine Berührung. Wer der Aufforderung nicht sofort Folge leistete, bekam einen strafenden Blick, und wehe dem, der eine Zahl falsch verstand.
    Welchen Schalter sollte sie sich wünschen? Wer würde nachsichtiger sein? Eine Frau oder ein Mann? Sie beobachtete einen Chinesen, der schon seit vielen Minuten von einem dünnen Afrikaner befragt wurde.
    Für die ersten beiden Nächte hatte sie sich ein Zimmer in einer Pension gebucht und konnte eine Adresse nachweisen. Und dann? Was sollte sie antworten, wenn sie danach gefragt würde? Ich besuche einen Freund? Einen Freund, den ich vor fünfundzwanzig Jahren das letzte Mal gesehen und mit dem ich nur hin und wieder eine Weihnachtskarte getauscht habe? Merry xmas. Was bedeutete eigentlich das »x«? Sollte sie ihnen von Micks Flucht erzählen, von seiner jahrelangen Sehnsucht nach diesem Land, die er sich, im wahrsten Sinne des Wortes, mit einem Sprung ins kalte Wasser erfüllt hatte? Sie war im Zweifel, dass sich amerikanische Grenzbeamte für die Teilung Deutschlands interessierten. Und wahrscheinlich war es sogar ein Nachteil, aus einem ehemals kommunistischen Land zu kommen. Waren Sacco und Vanzetti nicht
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