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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman
Autoren: H kan Nesser
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    Es war der erste und letzte Tag.
    Die Stahltür fiel hinter seinem Rücken ins Schloss und das metallische Klicken hing noch einen Moment in der kühlen Morgenluft. Er machte vier Schritte, blieb stehen und stellte seine Tasche hin. Kniff die Augen zusammen und riss sie dann wieder auf.
    Ein leichter Morgennebel hing über dem einsamen Parkplatz, die Sonne ging über der Stadt gerade auf, und das einzige Lebenszeichen stammte von den Vögeln über den Feldern, die den Ort umgaben. Der Duft eines frisch gemähten Kornfeldes stahl sich in seine Nasenlöcher. Das Licht blendete ihn und zitterte über dem Asphalt. Aus der Ferne, einige Kilometer weiter, konnte er das sture Summen der Autos auf der Schnellstraße hören, die die offene Landschaft durchschnitt. Die plötzliche Erkenntnis der wahren Dimensionen der Welt sorgte dafür, dass ihm für einen Moment schwindlig wurde. Er hatte seit zwölf Jahren diese Mauern nicht verlassen, seine Zelle hatte zweieinhalb mal drei Meter gemessen, und er wusste, dass dieser Ort vom Bahnhof weit entfernt lag. Ungeheuer weit, vielleicht eine unüberbrückbare Entfernung für einen solchen Tag.
    Sie hatten ihm ein Taxi angeboten, das stand allen zu, aber er hatte abgelehnt. Wollte auf dem Rückweg in die Welt nicht mit Abkürzungen anfangen. Wollte an diesem Morgen bei jedem Schritt Bedeutung und Schmerz und Freiheit spüren.
Wenn er sein Vorhaben überhaupt durchführen wollte, dann galt es sehr viel zu überwinden, das war ihm klar. Zu überwinden und zu meistern.
    Er hob seine Tasche hoch und ging los. Die Tasche wog nicht viel. Sie enthielt ein wenig Unterwäsche. Ein paar Schuhe, ein Hemd, eine Hose und ein Nageletui. Vier oder fünf Bücher und einen Brief. Die Kleidung, die er jetzt trug, hatte er am Vortag in der Kleiderkammer anprobiert, danach hatte er ihren Empfang quittiert. Es war die typische Anstaltsgarderobe. Schwarze Kunstlederschuhe. Blaue Hose. Blassgraues Flanellhemd und eine dünne Windjacke. Für die Leute in der Stadt würde er so leicht zu identifizieren sein wie ein katholischer Priester oder ein Schornsteinfeger. Einer der Leute, die mit der braunen Reisetasche aus Pappe zum Bahnhof wanderten und wegfahren wollten. Die ihre Zeit in der Großen Grauen zwischen Stadtwald und Schnellstraße abgesessen hatten. Die ganz in der Nähe wohnten und doch endlos weit fort zu sein schienen. Einer von den anderen. Die leicht Erkennbaren.
    Die Große Graue. So hieß das Haus im Volksmund; für ihn selber war es eher namenlos, war nur ein Stück Zeit, aber fast kein Raum. Und die Blicke der Menschen berührten ihn schon längst nicht mehr: schon längst war er gezwungen worden, ihre oberflächliche und sinnlose Gesellschaft zu verlassen. Das hatte er ohne Zögern getan, unter Zwang, weil ihm nichts anderes übrig geblieben war, und er hatte sich niemals zurückgesehnt. Niemals.
    Und die Frage war da noch, ob er jemals dazugehört hatte.
     
    Die Sonne stieg höher. Nach einigen hundert Metern musste er abermals eine Pause einlegen. Er streifte die Jacke ab und legte sie sich über die Schulter. Zwei Autos kamen an ihm vorbei. Wärter, vermutlich, oder andere Beamte. Anstaltsleute jedenfalls. Hier in dieser Gegend gab es sonst doch nichts. Nur die Große Graue.

    Er setzte sich wieder in Bewegung. Wollte vor sich hinpfeifen, kam aber auf keine Melodie. Das Morgenlicht war einfach zu stark. Er überlegte sich, dass eine dunkle Sonnenbrille eine Hilfe sein könnte, vielleicht könnte er sich in der Stadt eine kaufen. Er legte sich die Hand an die Stirn, kniff die Augen zusammen und betrachtete die Silhouetten im scharfen Licht. In diesem Moment fingen irgendwelche Kirchenglocken zu läuten an.
    Er schaute auf seine Armbanduhr. Acht. Den ersten Zug würde er nicht mehr erreichen. Das wollte er aber auch eigentlich gar nicht, lieber wollte er ein paar Stunden bei einem ordentlichen Frühstück und einer aktuellen Tageszeitung im Bahnhofscafe sitzen. Er hatte es nicht eilig. An diesem ersten Tag jedenfalls nicht. Natürlich wollte er seinen Plan durchführen, aber der Zeitpunkt hing von Umständen ab, über die er noch keinerlei Überblick hatte.
    Am nächsten Tag, vielleicht. Oder am übernächsten. Wenn diese vielen Jahre ihm etwas, überhaupt irgendetwas beigebracht hatten, dann sicher dieses: Geduld zu haben.
    Geduld.
     
    Zielbewusst betrat er den Ort. Nahm die menschenleeren sonnenbeschienenen Straßen in Besitz. Die schattigen Gassen, die zum Marktplatz führten. Das
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