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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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hielt in der Rechten einen silbern schimmernden Stab, die – jetzt ausgeschaltete – Taschenlampe. Die linke Hand steckte in einer Tasche des Arztkittels. Ein langer, dürrer Hals wuchs aus dem weißen Kragen. Der Kopf darüber war ebenfalls länglich geformt, die Züge asketisch. Die ungekämmten weißen Haare mochten ihn älter erscheinen lassen, als er war. Auf den ersten Blick hätte ich ihn auf Mitte sechzig geschätzt, aber vielleicht war er zehn Jahre jünger.
    Oder älter? Das dachte ich, als ich seine Augen betrachtete. Sie lagen im Schatten buschiger weißer Brauen. Tiefe Ränder unter den Augen wiesen auf mangelnden Schlaf hin. Und auf große Sorgen? Was mich an einen sehr alten Mann denken ließ, war das Netzwerk aus Falten an den äußeren Augenwinkeln, das sich so tief in die Haut gefressen hatte, als hätte das unerbittliche Leben sie mit einem Meißel in das Gesicht geschlagen.
    Die Augen selbst verrieten nichts. Sie verströmten kein jugendliches Feuer, waren aber auch nicht vom Schleier des Alters verhängt. Wie zwei ruhige Bergseen lagen sie in den tiefen Höhlen, klares Blau, in dem der Betrachter versinken konnte.
    Mit Gewalt musste ich mich von dem faszinierenden Anblick dieser Augen losreißen und mich zwingen, mit der Musterung des Weißhaarigen fortzufahren. Leicht gekrümmter Rücken und blassgraue Haut, also weder Athlet noch Sonnenanbeter. Ein Leben am Schreibtisch und im Labor. Und im Operationssaal?
    Eine warme Hand strich über meine Stirn, zog sich zurück und kehrte wieder, diesmal mit einem weichen Tuch. »Ein leichter Schweißausbruch, normal angesichts der Umstände, würde ich sagen.«
    Das war die Frau von eben. Mein Kopf wandte sich zu ihr. Sie beugte sich noch immer über mich, um den Schweiß abzuwischen. Rote Locken kitzelten meine Wangen. Ein sehr angenehmes Gefühl. Ihr Haar hatte das intensive Rot überreifer Kirschen. Unterstrichen wurde die Wirkung der ungewöhnlichen Haarfarbe noch durch die weiße Schwesternhaube, der es nichf gelang, die Lockenpracht zu bändigen. Ein Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und vollen, sinnlichen Lippen ließ die Schwesterntracht als lächerlichen Täuschungsversuch erscheinen. Ich stellte mir die Frau in einem gewagten Abendkleid vor, tief ausgeschnitten oder hoch geschlitzt, am besten beides. Und das in einem verräucherten Nachtclub, der irgendwie antiquiert wirkte. Wie aus einem Hollywood-Gangster-Streifen der Fünfzigerjahre.
    »Danke, Schwester Ira«, zerstörte der Weißhaarige meinen Traum und beugte sich über mich. »Wie fühlen Sie sich?«
    Eine gute Frage!
    Krampfhaft suchte ich nach einer Antwort. Ich wollte meinen Körper abtasten wie ein Soldat nach einem Granateinschlag. Aber Arme und Beine wollten – konnten – mir nicht gehorchen. Jetzt spürte ich die stählernen Fesseln, die sie fest hielten.
    »Wie fühlen Sie sich?«, wiederholte der Weißschopf und beugte sich dabei so dicht über mich, dass ich seinen Atem spürte.
    »Gelähmt«, sagte ich und konnte mich selbst kaum verstehen.
    War das eben meine Stimme gewesen oder das Knarren einer rostigen Türangel? Meine Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper an, mein Mund war eine trockene, pelzige Höhle.
    »Schwester, der Patient könnte etwas zu trinken vertragen«, stellte der Weißschopf in seinem emotionslosen Tonfall fest.
    »Ja, Doktor.«
    Die Rothaarige brachte mir einen kleinen Plastikbecher, kaum größer als ein Fingerhut. Die Flüssigkeit hatte Zimmerwärme und auch einen Hauch von Geschmack, aber vergebens bemühte ich mich, ihn zu identifizieren. Irgendwas zwischen Himmbeere und Hagebutte.
    »Was ist mit meinen Armen und Beinen?«, fragte ich. Es klang abgehackt wie ein Roboter in einem uralten Sciencefictionfilm.
    Der Arzt hob die Mundwinkel an, was wohl so etwas wie ein Lächeln darstellen sollte. »Wir mussten Sie ans Bett schnallen, zu Ihrem eigenen Schutz. Sie hatten Alb träume und wollten randalieren.«
    Albträume  …
    Plötzlich war alles rot um mich herum. Ein anderes Rot als das Haar der Schwester. Heller, unangenehm, durchdringend. Ich sah die Fische in dem roten Meer und fürchtete, jeden Augenblick wieder zum Brennpunkt der anklagenden Blicke zu werden, der toten Augen. Der ehemals weiße Raum begann sich um mich zu drehen.
    »Atmung und Puls steigen rapide an!«
    »Er kollabiert!«
    »Wir müssen stabilisieren!«
    »Injektion, schnell!«
    Die Fische bewegten gemächlich ihre kleinen Mäuler. Es wollte nicht zu den aufgeregten
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