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Seelenrächer

Seelenrächer

Titel: Seelenrächer
Autoren: G O'Carroll
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Dublin, Sonntag, 31. August, 21:45 Uhr
    Eva fiel auf, wie blass ihr Spiegelbild in der dunklen Fensterscheibe war. Auf den Tag genau vor einem Jahr war ihr Sohn zu Tommy O’Driscoll unterwegs gewesen, als plötzlich ein Auto mit Vollgas um die Kurve geschossen kam, weil der Fahrer betrunken, mit Drogen zugedröhnt oder einfach nur ein rücksichtsloser Kerl war.
    Unten läutete das Telefon. Sie hoffte, dass es nicht ihr Mann war. Nachdem sie ihn nachmittags auf dem Friedhof gesehen hatte, fühlte sie sich jetzt nicht imstande, mit ihm zu sprechen. Dabei war ihr durchaus bewusst, dass sie mit ihm reden sollte, er hatte schließlich genauso viel durchgemacht wie sie. Aber er war Polizist. Er und seine Leute verfügten über abgeschürfte Farbe und Metallspuren, die von dem Unfallwagen stammten. Und über Reifenabdrücke. Ihr Mann war einer der besten Ermittler in ganz Dublin, und doch hatte er es nicht geschafft, denjenigen zu finden, der ihren einzigen Sohn getötet und dann Fahrerflucht begangen hatte. Irgendwie hatte das einen Keil zwischen sie und ihn getrieben. Es gab viel zu viel, worüber sie nachdenken musste, zu viele Emotionen, aber keinen Raum und keinen Frieden, um sich damit auseinanderzusetzen. Erst jetzt realisierte sie, dass sie den Telefonhörer bereits in der Hand hielt. »Hallo?«, meldete sie sich. »Hallo?«
    »Eva, hier ist Paddy. Bei dir alles in Ordnung?«
    Patrick Maguire, ihr Vertrauter und Berater – der Mann, bei dem sie sich hin und wieder aussprach, während er ihr am Küchentisch gegenübersaß und zuhörte.
    »Paddy«, antwortete sie leise, »ja, es geht mir gut. Und dir?«
    »Es tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, aber ich habe mir deinetwegen Sorgen gemacht. Auf dem Friedhof waren heute so viele Menschen. Ich hatte Angst, es könnte dir zu viel werden.«
    »So war es auch ein bisschen, um ehrlich zu sein«, gestand sie. »Ich konnte keinen einzigen Moment mit Danny allein sein.«
    »Diesen Eindruck hatte ich auch.«
    »All die Leute waren gekommen, um diesem besonderen Tag Rechnung zu tragen, und ich … ich wollte nichts sagen.«
    »Du bist seine Mutter. Alle kennen dich. Du hast ein Anrecht auf ein paar ruhige Momente an seinem Grab.«
    »Ich weiß, aber ich musste an Jess und Laura denken. Hast du die Blumen gesehen, Paddy? Alle haben solche Unmengen schöner Blumen gebracht.«
    »Ja, wirklich wunderschön. Hör zu, Eva, es tut mir leid, dass du nicht mit ihm allein sein konntest.«
    »Schon in Ordnung«, entgegnete sie, »es kommen auch wieder andere Tage – Gott weiß wie viele andere Tage.«
    Plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen, und sie spürte den Kloß in ihrem Hals. »Ach Pad«, flüsterte sie, »ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Ich fühle mich so leer und gleichzeitig so aufgewühlt. Ich weiß gar nichts mehr mit mir anzufangen.«
    »Glaub mir«, versuchte er sie zu beruhigen, »der erste Jahrestag ist immer der schlimmste. Lass den Schmerz einfach zu. Nimm deine Gefühle an und entschuldige dich deswegen weder bei dir selbst noch bei irgendjemand anderem. Niemand kann nachempfinden, wie es dir geht. Niemand außer dir war seine Mutter.«
    Seine Stimme klang so sanft. Sie sah sein Gesicht vor sich, sein Lächeln. Die Zärtlichkeit in seinen Augen. Für einen Moment fragte sie sich – nicht zum ersten Mal –, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie sich vor all den Jahren nicht derart heftig in Moss verliebt hätte.
    »Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte Patrick, als könnte er ihre Gedanken lesen.
    »Nicht richtig. Irgendwie schaffe ich es einfach nicht. Jetzt ist es schon ein ganzes Jahr her, und der Mensch, der das getan hat, lebt weiter, als wäre nichts geschehen, während ich am Grab meines Zwölfjährigen stehe. Ich gebe meinem Mann die Schuld daran – oder nehme ihm zumindest übel, dass er nicht herausfindet, wer es war. Mir ist klar, wie irrational das ist und dass ich nicht so denken sollte, weil ich ihn damit verletze. Trotzdem komme ich irgendwie nicht darüber hinweg. Er fängt alle möglichen Verbrecher, aber diesen einen erwischt er nicht. Begreift er denn nicht, dass dieser eine der einzige ist, auf den es ankommt?« Mittlerweile schnürte es ihr richtig die Kehle zu, und nur mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen. »Ich weiß, dass er nichts dafür kann und dass es für ihn genauso schlimm ist wie für mich. Trotzdem schaffe ich es nicht, mit ihm gemeinsam zu trauern. Ich muss mit meiner Trauer allein sein.«
    »Du
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