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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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erinnern.
    »Ein Foto!«, krächzte ich voller Erregung. »Haben Sie ein Foto von mir, Doktor?«
    »Im Moment leider nicht. Wieso?«
    »Weil …« Ich schluckte. Es kam mir lächerlich vor, ebenso lächerlich wie Furcht einflößend. »Weil ich mich nicht an mein Gesicht erinnere.«
    Ambeus sah mich tiefgründig an. Vergebens versuchte ich, seinen Blick zu deuten. Ich konnte nicht feststellen, ob meine Mitteilung ihn überraschte, oder ob er insgeheim damit gerechnet hatte.
    Er wandte sich zu der Rothaarigen um. »Schwester, holen Sie uns bitte einen Spiegel!«
    Ira verließ das Zimmer und kehrte kurz darauf mit einem altmodischen Handspiegel zurück, wie er auf dem Frisiertisch einer nicht mehr jungen Frau liegen mochte. Ambeus nahm den Spiegel an sich und hielt ihn mir vors Gesicht. Für ein paar Sekunden war die Furcht vor der Enttäuschung größer als alles andere, und ich kniff die Augen fest zusammen. Schließlich öffnete ich die Augen, ganz langsam wie ein Kind, das nachsehen will, ob der böse schwarze Mann verschwunden ist.
    Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegensah, wirkte auf mich nicht uninteressant. Das Haar lag zusammen mit dem oberen Teil des Kopfes unter einem dicken weißen Verband verborgen. Unter den schwungvollen Krümmungen tiefschwarzer Brauen blickten mich eisgraue Augen forschend an. Der Blick wirkte offen und klar, aber zugleich befremdet. Zwischen den Augen erhob sich wie eine Trennmauer eine etwas zu ausgeprägte Nase, deren Spitze sich auffällig krümmte. Kein Zweifel, sie war gebrochen. Das Gesicht war schmal und knochig, das Kinn sprang angriffslustig nach vorn. Die leicht aufgeworfenen Lippen wirkten, allem Ernst der Situation zum Trotz, ein wenig spöttisch.
    Nicht übel, wirklich, der Kerl gefiel mir – aber er war mir vollkommen fremd.
    Immer wieder sah ich mir das Gesicht – mein Gesicht – in den folgenden Tagen und Nächten an, aber es blieb mir so unbekannt, so fremd wie das der Ärzte und der Schwester.
    Die Ärzte stellten mir alle möglichen Fragen, und meistens konnte ich zufrieden stellend antworten, um welche Wissensgebiete es sich auch handelte. Ich wusste, dass die Mauer vor zehn Jahren gefallen und Deutschland wieder vereinigt war. Ich wusste, welches Land Fußballweltmeister und Europameister war. Ich kannte den Namen des US-Präsidenten und erinnerte mich, dass sein Vorgänger in einen Riesenskandal verwickelt gewesen war.
    Aber bei Ereignissen, die erst Tage oder wenige Wochen zurücklagen, musste ich passen. Von dem schweren Erdbeben in Los Angeles hatte ich ebenso wenig gehört wie von der Entführung einer Lufthansa-Maschine durch ein nahöstliches Terrorkommando. Und wenn ich davon gehörte hatte, dann hatte ich es restlos vergessen. Ebenso wenig wusste ich etwas von dem schweren Unfall des amtierenden Formel-1-Weltmeisters oder von dem Sex-Skandal um den englischen Innenminister. Alles Ereignisse der letzten drei bis vier Wochen, alles in meinem Kopf so wenig existent wie mein eigener Name und mein eigenes Gesicht.
    Ich weiß nicht, in wie vielen Stunden die Ärzte mir Frage um Frage stellten und monoton ihre Anmerkungen auf Dutzende von Papierblättern schrieben. Alles ähnelte sich, vermischte sich zu einem Brei der immer gleichen Gesichter und der immer gleichen Fragen.
    Wann ich auch aus meinem blutigen Traum erwachte, immer waren dieselben vier Personen oder ein paar von ihnen um mich herum. Und immer herrschte in meinem Krankenzimmer dasselbe künstliche Licht. Tageslicht gab es ebenso wenig wie einen Tag, weil der Raum kein Fenster hatte.
    Als ich Schwester Ira nach dem Grund fragte, antwortete sie schulterzuckend: »Das ist auf dieser Station eben so. Die Patienten bedürfen absoluter Ruhe.«
    »Ich habe hier noch keine anderen Patienten gesehen.«
    »Es sind alles Einzelzimmer, der Ruhe wegen.«
    Das war zwar eine Erklärung, doch konnte sie mein Misstrauen nicht besänftigen, das immer stärker wurde, je länger ich in der Klinik lag. Noch immer festgeschnallt. Angeblich, weil jede heftige Bewegung dem Heilungsprozess geschadet hätte.
    Mein Blick glitt durch das Zimmer, das jetzt im Halbdunkel lag. Außer einer kleinen Lampe verbreiteten nur die medizinischen Apparate einen matten Schein, teils rötlich, teils grünlich. Schwester Ira saß, über einem aufgeschlagenen Hochglanzmagazin halb zusammengesunken, einsam an einem kleinen Tisch. Außer ihr und mir war niemand im Zimmer. Ich schloss aus den Umständen, dass es draußen Nacht
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