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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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kramte in meinem Gedächtnis, aber das war wie ein alter Schrank auf dem Sperrmüll: nur leere Fächer.
    »Ich habe keine Erinnerung an meinen Unfall«, sagte ich endlich. »Ich weiß wirklich nichts davon.«
    »Eben.«
    Allmählich dämmerte es mir. Es war wie ein würgender Griff, der meine Kehle langsam, aber stetig zudrückte. Ich schnappte nach Luft, schwarze Flecke tanzten vor meinen Augen. Das dumpfe Fauchen, das wie aus weiter Ferne an meine Ohren drang, war ein Röcheln – mein Röcheln.
    »Schwester Ira, Sauerstoff!«
    Der schneidende Ruf kam von Dr. Ambeus.
    Dann hörte ich unverständliche Worte, die allmählich schwächer wurden. Das verklingende Echo begleitete mich, als ich in das endlose Rot stürzte.
    Die Fische erschrecken mich nicht. Sie sind gleichgültig, ziehen achtlos an mir vorbei. Viel schlimmer sind die Menschen, die sich wie Meerespflanzen unter mir ausbreiten. Da liegen sie in seltsam verkrümmten Stellungen, wie gestürzte Marionetten, deren Spieler von einem Moment auf den anderen das Interesse verloren hat. Ihre Leiber sind reglos, tot. Aber ihre Augen leben, starren mich an, durchbohren mich, fragen, verwünschen und verdammen – hassen. Ich weiß genau: Wäre noch Leben in den Körpern, würden sie ihre Arme nach mir ausstrecken und mich zu sich in die tiefste Tiefe zerren, ins dunkelste Rot.
    I ch wende mich ab und schwimme nach oben. Dorthin, von wo mir ein heller Schimmer entgegenleuchtet, das Versprechen von Licht, Luft und Leben.
    Obwohl ich nach oben sehe, weiß ich, dass die Toten unter mir mich weiterhin anstarren, dass sie jede meiner Bewegungen mit brennendem Interesse verfolgen. Ein Grund mehr, so schnell wie möglich nach oben zu schwimmen.
    Mein Herz will aussetzen, als die Gesichter – und diese starrenden Augen! – plötzlich über mir sind. Aber dann erkenne ich, dass es nicht die Gesichter der Toten sind. Die rote Flüssigkeit, das Blut, weicht zurück, lässt mich ans Licht. Ich sehe Menschen, die weiß sind, nicht rot – mit Ausnahme des lockigen Haars über mir …
    »Wie lange war ich diesmal weggetreten?«, fragte ich Schwester Ira, die sich an einer Apparatur neben dem Kopfende des Bettes zu schaffen machte.
    »Nur fünf Stunden.« Die Antwort kam nicht von ihr, sondern von Dr. Ambeus. »Das freut mich sehr.«
    Der Arzt stand auf der anderen Bettseite, hinter ihm die beiden unvermeidlichen Assistenten. Ich erkannte ihre Gesichter wieder, das scharfgeschnittene des größeren und das etwas breiige des kleineren und stämmigeren Mannes.
    »Was freut Sie, Doktor? Dass ich weggetreten war? Oder dass ich nur fünf Stunden ohne Bewusstsein war?«
    »Weder noch. Es freut mich, dass Sie sich auch diesmal an Ihre letzte Wachphase erinnern. Das zeigt, dass Ihr Gedächtnis dabei ist, sich zu erholen. Früher haben Sie sich an gar nichts erinnert, wenn Sie erwacht sind.«
    Früher?
    Dieses eine Wort beschäftigte mich. Bislang hatten wir über Stunden gesprochen, aber dieses Früher lenkte meine Gedanken in ganz andere zeitliche Dimensionen.
    »Wie … wie lange bin ich schon hier?«
    »Heute ist der achtzehnte Tag«, antwortete Ambeus, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen.
    Ich dachte an das Gespräch vor meiner letzten Ohnmacht. »Sie haben etwas von einem Unfall gesagt, Doktor. Ein Autounfall?«
    »Wir wissen nichts Genaues. Auch die Polizei konnte nichts feststellen. Man fand Sie frühmorgens bewusstlos an einer abgelegenen Landstraße, nicht weit vom Krankenhaus. Jemand hat Sie angefahren und dann Fahrerflucht begangen.«
    »War ich zu Fuß unterwegs?«
    »Augenscheinlich.« Ambeus musterte mich eindringlich. »Erinnern Sie sich nicht, was Sie dort gesucht haben?«
    Ich versuchte, mir eine Landstraße vorzustellen, die Landstraße. Aber ich brachte nur ein nebulöses Bild zustande, nichts Konkretes. Eine verlassene Fahrbahn zwischen Wiesen und Bäumen, wie man sich eine Landstraße eben vorstellt. Die Unfallstelle war, wie der ganze Unfall selbst, in meinem Gedächtnis ausgelöscht.
    Als ich das dem Arzt sagte, legte er beruhigend eine Hand auf meine Schulter. »Machen Sie sich nichts daraus, die Erinnerung wird schon wiederkommen. Vielleicht sollten wir es mit etwas anderem versuchen. Erzählen Sie mir doch etwas über sich selbst, bitte!«
    Ich glaubte, einen merkwürdigen Unterton in seiner Stimme wahrzunehmen, einen Ausdruck innerer Anspannung. Seine äußere Gelassenheit schien nicht echt zu sein. Ich schob den Gedanken beiseite und versuchte
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