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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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es hätte keinen Unterschied gemacht. Zudem hätte das Geräusch Schwester Ira alarmiert. Meine Augen starrten den Stift an wie die Schlange das Kaninchen, während ich ganz langsam begann, mein Körpergewicht zu verlagern. So ziemlich die einzige Bewegungsfreiheit unterhalb des Kopfes, die mir blieb.
    Der Kuli zitterte leicht und rollte zwei, drei Zentimeter nach rechts, der Bettkante entgegen. Ich hielt den Atem an, vermied jede Bewegung, und die blaue Röhre kam einen Finger breit vor dem Rand der Matratze zur Ruhe. Ich öffnete die Lippen einen Spalt und ließ die angehaltene Luft entweichen, so langsam, dass die Vibrationen nicht zu einem weiteren Erdbeben der Matratze führten. Dieses verfluchte kleine Ding aus blauem Plastik durfte nicht hinunterfallen!
    Ganz sacht drückte ich den rechten Ellbogen in die Matratze. Das obere Ende des Kulis, breiter und schwerer als das untere, antwortete mit einem unentschlossenen Schwanken. Wie ein Pendel, das noch nicht wusste, nach wo es ausschlagen, wie es sich entscheiden wollte, für Freiheit oder Gefangenschaft. Ich verstärkte den Druck des Ellbogens. Der Stift drehte sich, und der Druckknopf starrte mich an wie ein geheimes Auge. Bedeutete dieser Blick Einverständnis in meinen Plan? Oder wollte sich das kleine Stück Plastik mir zum Duell stellen?
    Ich press te den Ellbogen jetzt in die Matratze, und der Kuli rutschte mir entgegen. Die Bettdecke stoppte die Fahrt des winzigen blauen Schlittens. Ich hob den Ellbogen an, lüftete die Decke, und der Stift rollte nach einer Vierteldrehung gegen meinen Arm.
    All das verfolgte ich mit fast geschlossenen Augenlidern. Ira sollte bei einem ihrer flüchtigen Blicke den Eindruck gewinnen, die Müdigkeit habe über meine Libido gesiegt. Als der Kugelschreiber endlich bei mir war, heftete ich meinen getarnten Blick ganz auf die Rotlockige. Jede Bewegung ihrerseits war mir ein Anlass zu erhöhter Vorsicht.
    Mein rechter Arm schob den Kuli in kolbenartigen Bewegungen Stück um Stück nach unten, bis er zwischen meine Finger glitt. Ich hatte Mühe, den Kugelschreiber richtig zu greifen. Jetzt erst merkte ich, wie ungelenk meine Hände in den vielen Tagen ihrer Fesselung geworden waren. Ich musste vorsichtig sein, damit der Stift mir nicht aus der Hand fiel oder unter zu heftigem Druck zerbrach.
    Nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wie schwierig es ist, einen Kugelschreiber mit nur einer Hand zu öffnen. Jedenfalls konnte ich mich nicht an solche Gedanken erinnern. Mit zwei Händen ist es kein Problem, beide Hälften in entgegengesetzte Richtungen zu drehen. Aber mit einer Hand, die einem noch dazu so klobig und ungelenk erscheint wie die Riesenpranke von Frankensteins Monster, kann es einen zur Verzweiflung treiben. Ich hätte laut fluchen mögen.
    Stärker und stärker drückte mein Daumen gegen den Plasticklipp, während die restlichen Finger die untere Röhrenhälfte umklammerten. Wahrscheinlich gab ich ein höchst lächerliches Bild ab: Ein Mann im Kampf gegen einen Kugelschreiber.
    Für mich aber ging es um alles. Längst stand für mich fest, dass Dr. Ambeus, Schwester Ira und die anderen es nicht, oder nicht nur, auf mein Wohlergehen abgesehen hatten. Ich mochte ihr Patient sein, aber ich war auch ihr Gefangener.
    Mit einem leisen Knacken, gedämpft durch die Bettdecke, brach der Plastikklipp ab. Ein jäher Schmerz durchfuhr meinen Daumen, als er über die scharf zackige Bruchstelle schrammte. Etwas Feuchtes rann den Daumen hinab, Blut. Der Daumen schmerzte bei jeder Bewegung, und die Röhrenhälften des Kugelschreibers saßen noch genauso fest zusammen wie zuvor.
    Klipp abgebrochen, Daumen aufgerissen, nichts erreicht!
    Ärger und Enttäuschung durchfluteten mich, wollten sich zur Panik verbinden. Ich rang das beklemmende Gefühl nieder und zwang mich, tief und regelmäßig zu atmen, wie ein Schlafender. Ich durfte nicht auf die einzige Waffe verzichten, die mir derzeit zur Verfügung stand, sah man einmal von dem renitenten Kuli ab: ein klarer, kühl kalkulierender Kopf.
    Wenn auch einer mit irreparablen Schäden!, durchfuhr es mich.
    Hatte ich laut gesprochen? Die Schwester ließ das Magazin auf die quadratische Tischplatte sinken, erhob sich und trat an mein Bett. Meine Lider waren jetzt so weit geschlossen, dass ich Ira nur als vagen Schatten wahrnahm. Hatte sie das Fehlen ihres Kugelschreibers bemerkt? Konnte sie die Flecken auf dem Bettzeug sehen, die mein blutender Daumen verursachen musste?
    Eine kleine
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