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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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Ewigkeit stand sie neben dem Bett und sah mich an. Jedenfalls vermutete ich das, während ich meine Lider geschlossen hielt. Schließlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus und kehrte an ihren Tisch zurück, zu ihrer Zeitschrift. Ich hörte das leise Knistern, das beim Umblättern der Seiten entstand, und lächelte innerlich. Sollte Ira bedauern, dass sie dem vermeintlichen Drängen meiner Libido nicht nachgegeben hatte?
    Den Schmerz in meinem Daumen ingnorierend, nahm ich den Kampf gegen den inzwischen wohl blutverschmierten Kuli wieder auf. Mit Daumen und Zeigefinger versuchte ich, die obere Hälfte gegen den Uhrzeigersinn zu drehen, während die untere Hälfte in den restlichen Fingern klemmte. Das Blut ließ meine Finger immer wieder abrutschen, zehn, zwanzig, dreißig Mal.
    Und dann bewegte sie sich doch: Die obere Röhre ließ sich drehen!
    Ich schraubte sie nach oben, bis sie sich ganz von der unteren Röhre löste. Daumen und Zeigefinger umklammerten das Objekt meiner Begierde, die schlanke Mine, und zogen sie aus Feder und Röhre. Jetzt erst begann der eigentliche – der schwierige – Teil meiner Arbeit.
    Vergebens suchte ich in dem dunklen Labyrinth meines Gedächtnisses nach dem Ursprung der gewiss nicht alltäglichen Fertigkeit. War ich ein Meisterdieb oder ein Entfesselungskünstler? Keine Ahnung. Zwar wusste ich, was ich konnte, hatte aber keinen blassen Schimmer, wie und zu welchem Zweck ich es erlernt hatte.
    Zur Zeit musste das Problem meiner fehlenden Erinnerung in den Hintergrund treten. Drängender war meine Befreiung. Und ich arbeitete fieberhaft daran, doch zugleich mit kühler Überlegung. Langsam führte ich die Spitze der Kugelschreibermine über das Metall der Fessel, die mein Handgelenk umschloss. Ich lotete jede Ritze und jede Einbuchtung aus, achtete auf einen möglichen Widerstand und dessen Nachgeben, versuchte, mir jedes kleine Klicken und Klacken zu merken.
    In meinem Gehirn, eingedrungene Knochensplitter hin oder her, entstand nach und nach ein genauer Plan der Handfessel. Wie ein Hologramm, das direkt in meinen Kopf projiziert wurde. Noch immer tastete ich die Fessel ab und fügte Detail um Detail hinzu. Und irgendwann wusste ich Bescheid, kannte ich den Weg in die Freiheit, wenigstens theoretisch. Jetzt kam es darauf an, ob ich nichts übersehen hatte, ob ich wirklich ein solcher Meister im Schlösserknacken war, wie meine löchrige Erinnerung es mir weismachte, und ob die dünne, fast gewichtslose Mine ein geeignetes Werkzeug darstellte.
    Schwester Ira schlug das Magazin zu und wischte mit einer fahrigen Bewegung über ihre müden Augen.
    Schichtwechsel?, fragte ich mich mit jähem Erschrecken. Was war, wenn sie abgelöst wurde und wenn die Ablösung auf den Gedanken verfiel, die Fesseln zu überprüfen? Mein Blut, wohl überall auf der rechten Betthälfte verschmiert, würde mich unweigerlich verraten.
    Ein anderer Gedanke, nicht minder beängstigend: Vielleicht mussten Schwester Ira und die Ablösung ein Dokument unterzeichnen, quasi eine Übergabeerklärung betreffend den Patienten – mich. Was, wenn Ira ihren Kuli vermisste? Würde sie ihn suchen? Bei mir?
    Sie ging zu einem schmalen Schrank, nahm eine Thermoskanne und einen Becher heraus und setzte sich wieder an den Tisch. Als dampfender Kaffee in den Becher floß, atmete ich auf. Das bedeutete, dass Schwester Ira noch blieb, zumindest für einige Zeit.
    Zeit genug für mich?
    Während ich meine mühselige Arbeit wieder aufnahm, dachte ich über Ira nach. Ein seltsames Krankenhaus, das in jedes Einzelzimmer eine Nachtwache setzte. Oder war ich etwas Besonderes, ein wichtiger Patient? Wenn ja, warum? Und war die schöne Schwester mein Schutzengel oder meine Gefängniswärterin? Ich glaubte an Letzteres, sonst hätte ich die ganze Mühe nicht auf mich genommen.
    Als die Fessel mit einem lang gezogenen Klack-klack aufsprang, erschrak ich. Mein forschender Blick zu Ira zeigte mir aber, dass die Wirkung des Kaffees verflogen und ins Gegenteil umgeschlagen war. Sie lag halb über den Tisch zusammengesunken, die rechte Hand nach dem leeren Becher ausgestreckt.
    Ich zog die rechte Hand aus dem offenen Ring der eisernen Fessel und hätte am liebsten laut gejubelt. Welch herrliches Gefühl, die eigene Hand hin und her bewegen zu können!
    Meinen Übermut bezwingend, führte ich die Rechte mit der Mine langsam unter der Bettdecke entlang, bis zur linken Handfessel. Jetzt, wo ich den Aufbau der Fessel genau kannte, wo ich um die
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