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Brunetti 04 - Vendetta

Brunetti 04 - Vendetta

Titel: Brunetti 04 - Vendetta
Autoren: Donna Leon
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1
    Am letzten Dienstag im September fiel in den Bergen zwischen Norditalien und Österreich der erste Schnee, gut einen Monat bevor damit normalerweise zu rechnen war. Das Unwetter kam ganz plötzlich, herangetragen von dicken Wolken, die ohne Vorwarnung aus dem Nichts heraufzogen. Innerhalb kürzester Zeit waren die Paßstraßen oberhalb von Tarvisio tödlich glatt. Es hatte vier Wochen nicht geregnet, und so lag dieser erste Schnee auf einem Untergrund, der schon von einer öligen Schmiere überzogen war.
    Es war eine unheilvolle Kombination für einen Schwertransporter mit rumänischen Nummernschildern, auf dessen Ladepapieren 90 Kubikmeter Kiefernbretter standen. Kurz vor Tarvisio, in einer Kurve der Auffahrt zur Autostrada und somit zu den wärmeren, sichereren Straßen Italiens, bremste der Fahrer zu scharf und verlor die Kontrolle über das Ungetüm, das mit fünfzig Stundenkilometern von der Straße abkam. Die Räder pflügten tiefe Furchen in die noch ungefrorene Erde, während der Aufbau Bäume umknickte und eine lange Schneise bis hinunter zum Grund der Schlucht riß, wo der Laster schließlich gegen eine Felswand prallte, regelrecht aufplatzte und seine Ladung in weitem Umkreis verstreute.
    Die ersten Männer am Ort des Geschehens, Fahrer anderer Schwertransporter, die ohne nachzudenken anhielten, um einem der Ihren zu Hilfe zu eilen, liefen zuerst zum Führerhaus, aber für den Fahrer kam jede Hilfe zu spät. Er hing in seinem Sicherheitsgurt halb aus der Kabine heraus, sein Schädel eingeschlagen von dem dicken Ast, der bei der Schußfahrt des schweren Gefährts dessen Fahrertür abgerissen hatte. Der Fahrer einer Ladung Schweine, die zum Schlachten nach Italien gebracht wurden, stieg über die Reste der Motorhaube und spähte durch die zersplitterte Windschutzscheibe. Der Beifahrersitz war leer, und so begann der Suchtrupp, der sich inzwischen gebildet hatte, nach dem offenbar herausgeschleuderten zweiten Fahrer zu suchen.
    Vier Fahrer von Lastern verschiedener Größen kletterten den Abhang hinunter; ein fünfter blieb oben an der Straße, um Warnleuchten aufzustellen und über sein Funkgerät die polizia stradale herbeizurufen. Es fiel immer noch Schnee in dicken Flocken, weshalb es ein Weilchen dauerte, bevor einer der Männer den verdrehten Körper auf dem oberen Drittel des Hangs liegen sah. Zwei von ihnen rannten hin, auch sie in der Hoffnung, daß wenigstens einer der Fahrer den Unfall überlebt hatte.
    Rutschend, in ihrer Hast auch immer wieder auf die Knie fallend, kämpften die Männer sich durch den Schnee, den der Laster so mühelos weggepflügt hatte. Der erste kniete neben der reglos auf dem Rücken liegenden Gestalt nieder und fing an, die dünne weiße Schicht von dem Körper zu bürsten, um zu sehen, ob er noch atmete. Aber dann verfingen sich seine Finger in langen Haaren, und als er den Schnee vom Gesicht wischte, kamen darunter unverkennbar die zarten Wangenknochen einer Frau zum Vorschein.
    Er hörte einen der anderen Fahrer von unten etwas rufen. Als er sich umdrehte, sah er durch den noch immer rieselnden Schnee hindurch den anderen ein paar Meter links von der Spur, die der Laster bei seinem Sturz hinterlassen hatte, neben etwas knien.
    »Was ist?« rief er, während er behutsam die Finger an den Hals der Frau legte und an dem grotesk verdrehten Körper ein Lebenszeichen zu ertasten versuchte.
    »Das ist eine Frau«, schrie der zweite. Und gerade als er fühlte, daß in dem Hals unter seiner Hand kein Lebensfünkchen mehr war, rief der andere zu ihm herauf: »Sie ist tot.«
    Später sagte der erste Fahrer, der hinter dem verunglückten Laster gesucht hatte, er habe geglaubt, der Wagen habe eine Ladung Schaufensterpuppen transportiert. Da lagen sie hinter den zerborstenen Hecktüren im Schnee herum, mindestens ein halbes Dutzend. Eine schien sogar zwischen den Brettern eingeklemmt zu sein, die im Laderaum umhergerutscht waren, denn sie hing halb von der hinteren Ladefläche herunter, die Beine unter den Bretterstapeln, die so gut zusammengeschnürt waren, daß selbst der Aufprall auf den Fels sie nicht hatte auseinanderreißen können. Aber dann habe er sich, wie er sagte, gewundert, seit wann Schaufensterpuppen denn Mäntel trugen. Und wovon der Schnee um sie herum so rot war.

2
    Die polizia stradale brauchte über eine halbe Stunde, und als sie schließlich ankam, mußte sie erst einmal die Unfallstelle absichern und die kilometerlangen Staus auflösen, die sich in beiden
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