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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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kritische Stelle wusste und über eine frei bewegliche Hand verfügte, ging es viel schneller. Nach wenigen Minuten war auch diese Fessel gesprengt. Ich krampfte meine Hände ineinander, um in beiden wieder ein richtiges Gefühl zu haben, und überlegte meine nächsten Schritte.
    Ich dürfe meine Fußfesseln nicht lösen, bevor ich Schwester Iras nicht sicher war. Jede ungewohnte Bewegung meines Körpers hätte mich verraten können. Nein, erst war Ira an der Reihe. Also rief ich leise nach ihr. Sie richtete sich auf und sah mich verstört an.
    Ich setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. »Keine Angst, diesmal ist es nicht die Libido. Ich brauche die Bettpfanne.«
    Ira ging in den Sanitärbereich, der durch einen schweren Plastikvorhang vom Rest des Zimmers abgetrennt war und kehrte mit der Bettpfanne zurück. Die fiel scheppernd zu Boden, als meine blutbeschmierten Hände hervorschossen und sich schraubstockartig um Iras Hals legten. Sie wollte schreien, aber es reichte nur zu einem erstickten Gurgeln.
    Mich aus geweiteten, überraschten Augen ansehend, ging sie neben dem Bett in die Knie. Meine Finger fanden die Stelle in ihrem Nacken, an der ich ihr durch einen starken Druck das Bewusstsein nahm. Woher ich diesen Griff kannte? Ich wusste es nicht.
    Nervosität befiel mich. Wenn jemand das Scheppern gehört hatte, waren all meine Anstrengungen vergeblich gewesen. Hastig richtete ich mich im Bett auf, schlug die Decke zur Seite und bearbeitete die Fußfesseln mit der Mine. Niemand stürmte ins Zimmer, ich konnte erst die rechte und dann die linke Fessel öffnen.
    Mit noch unsicheren Bewegungen schwang ich mich aus dem Bett und kniete mich neben die Rothaarige, die in verkrümmter Haltung auf dem Linoleum lag. Eine schlafende Schönheit.
    Ich wuchtete sie aufs Bett und schloss die Fesseln um ihre Arme und Beine. Ihre Schwesternhaube diente als Knebel, mit dem ich ihren hübschen Mund verschluss. Sie war wirklich schön, selbst jetzt, wo sie bewusstlos und mit zerzaustem Haar vor mir lag. Ich drückte einen Kuss auf ihre Wange, bevor ich in den Sanitärbereich wankte.
    Wanken war die treffende Bezeichnung. Ich war es nicht mehr gewohnt, auf eigenen Füßen zu stehen, mich fortzubewegen. Wieder fühlte ich mich an Frankensteins Monster erinnert, das nach seiner wunderbaren Erweckung durch die elektrische Kraft des Blitzes seine ersten unsicheren Schritte wagt. Ich erinnerte mich an einen alten Schwarzweißfilm, und sogar der Name des Schauspielers fiel mir ein: Boris Karloff. Ja, ich erinnerte mich an diesen Namen, aber noch immer wusste ich nicht, wie ich selbst hieß.
    Ich fand den Schalter, der das Licht im Sanitärbereich aufflammen ließ. Kaltes Gelb traf auf den großen Spiegel über dem Waschbecken. Mein Gesicht – mir weiterhin fremd – sah darin aus, als litte ich an Gelbsucht. Vorsichtig löste ich den Kopfverband. Was darunter zum Vorschein kam, war nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Kein gänzlich kahl rasierter Schädel, überzogen von tiefen Narben. Das dunkle Haar war militärisch kurz geschnitten, kürzer noch als Streichholzlänge. Ich muss te den Kopf hin und her drehen, um zwei kahle Stellen zu finden, keine größer als ein Fünfmarkstück. An diesen Stellen entdeckte ich tatsächlich Narben, gerötete Verfärbungen, die unter der Berührung meiner tastenden Finger schmerzten.
    Ich drehte den Hahn in die Kaltwasserrichtung auf, benetzte mein Gesicht und meine Arme. Das Blut löste sich von den Händen und bildete im Waschbecken dünne Fäden, die widerstrebend in den Abfluss krochen. Mein verletzter Daumen blutete noch. Auf einem Seitenbord fand ich Verbandszeug, und ich wickelte ein Pflaster um den Daumen.
    Nachdem ich zwei Schritte zurückgetreten war, um mich im Spiegel zu betrachten, stieß ich ein heiseres Lachen aus. In dem blutfleckigen Krankenhausnachthemd und barfuß gab ich eine komische Figur ab. Und eine höchst auffällige dazu.
    Ich ging zurück ins Zimmer und trat vor den schmalen Spind, in dem ich meine persönlichen Sachen vermutete, wohl nicht mehr als meine Kleidung, wenn ich Dr. Ambeus glauben durfte. Gerade Kleidung war das, was ich jetzt brauchte – aber nicht fand. Der Spind war so leer wie bestimmte Bereiche meines Gedächtnisses.
    Befand sich meine Kleidung vielleicht noch zur Untersuchung bei der Polizei? Falls die Polizei überhaupt mit der Sache befasst war.
    Mir blieb nichts anderes übrig als meine Flucht so anzutreten, wie ich war. Ich ging zur
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