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Wenn der Golem erwacht

Wenn der Golem erwacht

Titel: Wenn der Golem erwacht
Autoren: Jörg Kastner
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Stimmen passen, die verzerrt an mein Ohr drangen.
    Oder bildetete ich mir die Stimmen nur ein? Vielleicht gab es gar kein weißes Zimmer mit weiß gekleideten Menschen. Dies hier, das Meer aus Blut, war meine Welt.
    Und ich versank in ihr.
    »Diesmal dürfen Sie aber nicht gleich wieder schlappmachen!«, sagte der rothaarige Engel, der sich über mich beugte.
    Ich atmete ein schweres Parfüm, verführerisch. Ein Duft, der nicht zu der Krankenhausatmosphäre passen wollte. Während Schwester Ira das Kopfstück meines Bettes höher stellte, registrierte ich ein fast identisches Bild wie vor meinem Eintauchen in das alles verschlingende Rot. Der weißhaarige Arzt stand noch oder schon wieder neben dem Bett, zwei jüngere Männer in weißen Kitteln schräg hinter ihm. Auch ihre Gesichter erkannte ich wieder.
    »War ich lange weggetreten?« Noch immer fiel mir das Sprechen schwer und meine Stimme klang für mich wie die eines Fremden.
    Der Weißhaarige trat ans Bett. »Was glauben Sie, wie lange?«
    »Wohl ein paar Minuten«, sagte ich vorsichtig.
    »Zwanzig.«
    »Zwanzig Minuten?«
    »Zwanzig Stunden.«
    »Aber … wieso?«
    »Es geht Ihnen nicht so besonders.«
    »Das habe ich gemerkt. Was ist mit mir?«
    »Sie haben schwere Kopfverletzungen erlitten.« Die nervige Rechte des Arztes wies auf meinen Schädel und bewegte sich in Zickzackline bis zum Fußende meines Bettes. »Deshalb auch die Bänder um Ihre Arme und Beine. Zu heftige Bewegungen, sei es im Schlaf oder bei einem Anfall, könnten Ihnen Schaden. Die Operationen waren alles andere als einfach.«
    »Operationen«, murmelte ich und sah den Arzt an. »Haben Sie …«
    Er wies auf die jüngeren Männer hinter ihm. »Mein Team und ich, ja. Wie haben zu retten versucht, was zu retten war.« Das war nicht gerade eine ermutigende Wortwahl, wie er selbst auch merkte. Schnell fügte er mit einem gezwungenen Lächeln hinzu: »Ich glaube, wir waren recht erfolgreich. Ihre Chancen stehen gut.«
    »Was haben Sie zu retten versucht, Doktor …«
    »Ambeus, Dr. Ambeus.« Er sprach das E und das U getrennt aus, wie bei ›Amadeus‹. »Ihre Kopfverletzungen haben zu Beeinträchtigungen der Hirnfunktionen geführt. Das macht die ganze Sache so heikel.«
    Falls dieser Ambeus jemals gelernt hatte, einen Patienten schonend über seinen Zustand zu unterrichten, hatte er es gründlich vergessen. Im Geiste sah ich mich mit schwerem Hirnschaden durchs Leben gehen, ein halber Zombie. Ich rang die Panikattacke nieder, die von mir Besitz ergreifen wollte.
    »Könnten Sie das ein wenig präzisieren, Dr. Ambeus?«
    »Ich will Sie nicht mit medizinischem Fachchinesisch quälen. Im Kern geht es darum, dass die Schädelfrakturen, die Sie sich bei Ihrem Unfall zugezogen haben, sich auf das limbische System ausgewirkt haben könnten.«
    »Das limbi … was?«
    Ambeus lächelte nachsichtig, als habe er einen begriffsstutzigen Schuljungen vor sich. »Das limbische System ist ein sehr komplexes Gebilde aus mehreren Hirnstrukturen, mitverantwortlich für die Entstehung von Gefühlen und emotionalen Verhaltensweisen. Aber auch dafür, an was der Mensch sich erinnert und was er vergisst.«
    »Und das ist bei mir gestört?«
    »Möglicherweise. Wir haben Ihr Gehirn so gut wie möglich durchleuchtet. Kernspin-Tomographie, Positronenemissions-Tomographie, Magnetresonanz-Tomographie. Das volle Programm. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, dass winzige Splitter Ihres Schädelknochens ins limbische System eingedrungen sind.«
    »Aber Sie sagten doch, Sie hätten mich operiert.«
    »Haben wir. Die größeren Knochensplitter sind draußen. Aber mit den mikroskopisch kleinen Splittern ist das so eine Sache. Wenn wir zu sehr in Ihrem Gehirn herumwühlen, könnten wir unabsichtlich irreparable Schäden herbeiführen. Schäden, die schwer wiegender sind als …« Der Arzt stockte und kniff die dünnen Lippen zusammen.
    »Als die Schäden, die bereits eingetreten sind?« Ich krächzte wie ein Rabe, halb aus Erregung, halb, weil meine Stimmbänder mir einfach nicht richtig gehorchen wollten. »Ist es das, Dr. Ambeus?«
    Er nickte.
    »Irreparable Schäden?«
    Ambeus breitete die Hände aus, und seine langen, dünnen Finger erinnerten mich an Spinnenbeine. »Das kann man jetzt noch nicht sagen. Wir können nur hoffen, dass die bisherigen Ausfallerscheinungen sich als temporär erweisen.«
    »Ausfallerscheinungen? Wovon sprechen Sie?«
    »Von Ihrer Erinnerung an Ihren Unfall und an sich selbst.«
    Ich
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