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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses
Autoren: Henry Miller
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herauszuziehen, was sie hineinsteckten. Das Zeitalter verlangt Gewalttätigkeit, aber wir bringen es nur zu Fehlzündungen. Revolutionen werden im Keim erstickt oder gelingen zu rasch. Leidenschaft ist schnell verausgabt. Die Menschen nehmen ihre Zuflucht zu Ideen, comme d’habitude . Nichts wird vorgeschlagen, was länger als vierundzwanzig Stunden bestehen kann. Wir führen eine Million Leben im Zeitraum einer Generation. Aus dem Studium der Entomologie, des Lebens in der Tiefsee oder der Zellenbildung ziehen wir mehr Nutzen …
    Das Telefon unterbricht diesen Gedanken, den ich nie imstande gewesen wäre, zu Ende zu verfolgen. Jemand kommt, um die Wohnung zu mieten …
    Es sieht so aus, als sollte mein Leben in der Villa Borghese zu Ende sein. Schön, ich nehme diese Seiten mit und ziehe woandershin. Auch anderswo passiert etwas. Es passiert immer etwas. Es scheint, wohin ich auch gehe, spielt sich ein Drama ab. Die Menschen sind wie Läuse – sie krabbeln einem unter die Haut und bohren sich dort ein. Man kratzt und kratzt, bis Blut kommt, aber man kann sich nicht ständig entlausen. Wo ich auch hingehe, vergällen die Menschen sich ihr Leben. Jeder hat seine Privattragödie. Es steckt jetzt im Blut – Unglück, Überdruß, Kummer, Selbstmord. Die Atmosphäre ist mit Unheil, Unzulänglichkeit und Enttäuschung gesättigt. Kratzen und kratzen – bis keine Haut mehr da ist. Wie auch immer, es wirkt auf mich belustigend. Statt entmutigt oder bedrückt zu sein, genieße ich es. Ich schreie nach mehr und mehr Unheil, nach größeren Schicksalsschlägen, gewaltigeren Katastrophen. Ich will, daß die ganze Welt in Unordnung gerät, daß jeder sich zu Tode kratzt.
    Ich bin gezwungen, jetzt so rasch und wild zu leben, daß kaum Zeit bleibt, auch nur diese fragmentarischen Notizen aufzuzeichen. Nach dem Telefonanruf erschienen ein Herr und eine Dame. Ich ging hinauf, um mich während der Verhandlung hinzulegen. Ich lag da und fragte mich, was wohl mein nächster Schritt sein würde. Jedenfalls nicht wieder in die Behausung dieses warmen Bruders zurückkehren und mir die ganze Nacht damit um die Ohren schlagen, daß ich mit den Zehenspitzen Brotkrumen wegschnippe. Dieses kleine Stinktier! Wenn es etwas Übleres gibt als einen warmen Bruder, dann ist es ein Geizhals. Ein ängstlicher, jammernder, kleiner Päderast, der in der dauernden Furcht lebt, eines Tages blank zu sein, vielleicht am 18. März, oder genau am 25. Mai. Kaffee ohne Milch und Zucker. Brot ohne Butter. Fleisch ohne Sauce oder überhaupt kein Fleisch. Ohne dies und ohne das! Dieser dreckige kleine Knicker! Eines Tages ziehe ich die Kommodenschublade auf und finde in einer Socke Geld versteckt. Über zweitausend Francs – und Schecks, die er nicht einmal eingelöst hatte. Sogar darüber hätte ich mich nicht so sehr geärgert, wenn nicht immer Kaffeesatz in meiner Baskenmütze und Küchenabfälle auf dem Fußboden gewesen wären, ganz zu schweigen von den Cremedosen und den schmierigen Handtüchern und dem ewig verstopften Ausguß. Ich sage euch, der kleine Bastard roch übel – außer wenn er sich mit Kölnischwasser bespritzte. Seine Ohren waren schmutzig, seine Augen waren schmutzig, sein Hintern war schmutzig. Er war falsch, asthmatisch, schmierig, schäbig, morbid. Ich hätte ihm alles verzeihen können, wenn er mir wenigstens ein anständiges Frühstück hätte zukommen lassen! Aber ein Mensch, der zweitausend Francs in einer dreckigen Socke versteckt hat und es ablehnt, ein sauberes Hemd anzuziehen oder ein bißchen Butter auf sein Brot zu streichen, ein solcher Mensch ist nicht bloß ein warmer Bruder, nicht einfach bloß ein Geizhals – er ist ein Schwachkopf!
    Aber es dreht sich nicht um den warmen Bruder. Ich lausche mit einem Ohr, was drunten vorgeht. Es ist ein Mister Wren und seine Frau, die die Wohnung ansehen wollen. Sie sprechen davon, sie zu nehmen. Sprechen nur davon, Gott sei Dank. Mistress Wren hat ein lockeres Lachen – Verwicklungen stehen bevor. Jetzt spricht Mister Wren. Seine Stimme ist rauh, schnarrend, dröhnend, eine schwere, ungeschliffene Waffe, die durch Fleisch, Mark und Bein dringt.
    Boris ruft mich hinunter, um mich vorzustellen. Er reibt sich die Hände wie ein Pfandleiher. Sie sprechen über eine Geschichte, die Mister Wren geschrieben hat, eine Geschichte von einem lahmen Pferd.
    «Aber ich dachte, Mister Wren sei Maler?»
    «Natürlich», sagte Boris mit einem Augenzwinkern, «aber in den Wintermonaten schreibt er.
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