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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses
Autoren: Henry Miller
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manchmal unverhohlen, Zigarettenstummel aufzulesen. Mich auf eine Bank setzen und den Bauch einziehen, damit das Nagen des Hungers aufhörte, oder durch die Tuilerien spazieren und beim Anblick der stummen Statuen eine Erektion bekommen. Oder nachts die Seine entlang wandern, wandern und immerzu wandern und außer sich geraten über die Schönheit, die überhängenden Bäume, die gebrochenen Spiegelbilder im Wasser, das Rauschen der Strömung unter den blutroten Lichtern der Brücken, die unter den Torbogen schlafenden Weiber, hingestreckt auf Zeitungen und im Regen. Überall die modrigen Säulengänge der Kathedralen, und Bettler und Ungeziefer und alte Vetteln mit Veitstanz. In den Seitenstraßen wie Weinfässer übereinandergetürmte Handkarren, Beerengeruch auf dem Marktplatz, und die alte Kirche, umgeben von Gemüse und blauen Bogenlampen, die Rinnsteine schlüpfrig von Abfällen, und Frauen, die nach einer durchzechten Nacht in Atlasschuhen durch den Schmutz und Unrat stelzen. Die Place St. Sulpice, so still und verlassen, wo jeden Abend gegen Mitternacht die Frau mit dem zerbrochenen Schirm und dem verrückten Schleier hinkam. Jede Nacht schlief sie dort auf einer Bank unter ihrem zerfetzten Schirm, von dem die Stäbe herunterhingen, ihr Kleid grün verfärbt, mit ihren knochigen Fingern und dem von ihrem Leib ausströmenden Verwesungsgeruch. Und am Morgen saß ich selbst dort, machte ein ruhiges Nickerchen im Sonnenschein und verfluchte die überall Brosamen aufpickenden verdammten Tauben. St. Sulpice! Die dicken Glockentürme, die grellen Anschläge über dem Portal, drinnen die strahlenden Kerzen. Der von Anatole France so geliebte Platz mit seinem Stimmengesumm und Glöckchenklingen vom Altar, dem Plätschern des Springbrunnens, dem Gurren der Tauben, den wie durch Zauber verschwindenden Krumen, von denen nur ein dumpfes Kullern in den hohlen Eingeweiden übrigbleibt.
    Hier konnte ich Tag für Tag sitzen und an Germaine und die kleine schmutzige Straße unweit der Bastille denken, wo sie wohnte, und das Stimmengemurmel hinter dem Altar ging weiter, die Omnibusse sausten vorbei, die Sonne knallte auf den Asphalt herunter, und der Asphalt drang in mich ein und Germaine in den Asphalt und ganz Paris in die großen, dicken Glockentürme.
    Erst ein Jahr ist es her, daß Mona und ich jede Nacht die Rue Bonaparte hinuntergingen, nachdem wir uns von Borowski verabschiedet hatten. St. Sulpice bedeutete mir damals nicht viel, auch sonst nichts in Paris. Genug des Gewäschs. Satt der Gesichter. Überdrüssig der Kathedralen, der Plätze und Menagerien und was nicht alles. Nahm im roten Schlafzimmer ein Buch zur Hand, und der Rohrstuhl war unbequem; müde, den ganzen Tag auf meinem Hintern zu sitzen, müde der roten Tapete, müde, so viele Menschen über nichts quatschen zu hören. Das rote Zimmer und der Koffer stehen immer offen; ihre Kleider liegen in einem Delirium von Unordnung umher. Das rote Schlafzimmer mit meinen Gummiüberschuhen und Spazierstöcken, den Notizbüchern, die ich nie anrührte, den kalt und tot daliegenden Manuskripten. Paris! Das bedeutete das Café Select, das Dôme , den Flohmarkt, den American Express. Paris! Das waren Borowskis Spazierstöcke, Borowskis Hüte, Borowskis Gouachen, Borowskis prähistorische Fische – und prähistorische Witze. In dem Paris von 1928 hebt sich nur eine Nacht in meiner Erinnerung ab – die Nacht vor meiner Abreise nach Amerika.
    Eine ungewöhnliche Nacht, Borowski leise in Verlegenheit gebracht und ein wenig böse auf mich, weil ich mit jeder Pritsche im Lokal tanze. Aber morgen früh reisen wir ab! Das sage ich jeder Pritsche, die ich zu fassen kriege – morgen früh reise ich ab! Das sage ich der Blonden mit den achatfarbenen Augen. Und während ich es ihr sage, nimmt sie meine Hand und preßt sie zwischen ihre Beine. In der Toilette stehe ich vor dem Becken mit einem riesigen Ständer. Er kommt mir gleichzeitig leicht und schwer vor, wie ein Bleirohr mit Flügeln daran. Und während ich so dort stehe, kommen zwei Pritschen hereingesegelt – Amerikanerinnen. Ich begrüße sie herzlich, Pint in der Hand. Sie winken und gehen weiter. Wie ich in dem Waschraum meinen Latz zuknöpfe, sehe ich eine von ihnen darauf warten, daß ihre Freundin aus dem Lokus herauskommt. Die Musik spielt noch immer, und vielleicht kommt Mona oder Borowski mit seinem goldbeknopften Stock mich abholen, aber nun bin ich in ihren Armen, und sie hält mich fest, und es ist mir gleich,
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