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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses
Autoren: Henry Miller
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Welt, die durch Selbstbespiegelung gelähmt ist und sich an erlesenen geistigen Speisen übernommen hat, dringt diese brutale Bloßstellung des wirklichen Körpers wie ein lebenspendender Blutstrom. Gewaltsamkeit und Obszönität werden unverfälscht gelassen als Äußerung von Geheimnis und Schmerz, den ständigen Begleiterscheinungen des Schöpfungsvorganges.
    Der belebende Wert der Erfahrung, der Hauptquelle von Weisheit und Schöpfertum, wird wieder zur Geltung gebracht. Es bleiben weite Gebiete voll unvollendeter Gedanken und Taten, ein Bündel von Fetzen und Fasern, mit denen die allzu Kritischen sich selbst erdrosseln mögen. Über seinen Wilhelm Meister hat Goethe einmal gesagt: «Man sucht einen Mittelpunkt, und das ist schwer und nicht einmal gut. Ich sollte meinen, ein reiches mannigfaltiges Leben, das unseren Augen vorübergeht, wäre auch an sich etwas ohne ausgesprochene Tendenz, die doch bloß für den Begriff ist.»
    Das Buch wird allein durch Fluß und Wechsel der Ereignisse auf seiner eigenen Achse gehalten. Gerade weil es keinen Mittelpunkt gibt, ist auch keine Rede von Heldentum oder Kampf, da auch keine Rede von Willen ist, sondern nur von einer Hingabe an das Strömen.
    Vielleicht sind die groben Karikaturen deshalb lebensvoller, ‹naturgetreuer› als die durchgeführten Porträts des herkömmlichen Romans, weil das Individuum heute keine Mitte hat und nicht die leiseste Illusion der Ganzheit hervorbringt. Die Figuren werden in die falsche kulturelle Leere einbezogen, in der wir ertrinken; so entsteht die Illusion des Chaos, dem entgegenzutreten äußersten Mut verlangt.
    Die Demütigungen und Niederlagen, die mit ursprünglicher Aufrichtigkeit dargestellt werden, führen nicht zu Enttäuschung, Verzweiflung oder Sinnlosigkeit, sondern zu einem Hunger, einem ekstatischen, verzehrenden Hunger – nach mehr Leben . Das Dichterische wird freigelegt durch ein Abstreifen des Kunstgewandes, durch eine Rückkehr zu dem, was sich als ‹vorkünstlerische Ebene› bezeichnen ließe; das dauerhafte Skelett der Form, das in den Erscheinungen der Auflösung verborgen ist, wird erneut sichtbar, um wieder in das ständig wechselnde Fleisch des Gefühls verwandelt zu werden. Die Narben werden weggebrannt, die Narben, die von den Geburtshelfern der Kultur hinterlassen worden sind. Hier haben wir einen Künstler, der die Macht der Illusion wiederherstellt, indem er die offenen Wunden anstarrt und sich der erschreckenden psychologischen Wirklichkeit annimmt, der der Mensch durch Hinwendung zur hinterhältigen Symbolik der Kunst zu entgehen versucht. Hier werden die Symbole bloßgelegt, werden von diesem überzivilisierten Individuum fast ebenso naiv und schamlos dargestellt wie von dem bodenständigen Wilden.
    Die Ursprünge dieses wilden Lyrismus liegen nicht in einem falschen Primitivismus. Er ist keine rückschrittliche Tendenz, sondern ein Schritt vorwärts auf unbetretenen Boden. Ein nacktes Buch wie dieses mit demselben kritischen Blick zu betrachten, den man sogar auf so verschiedene Erscheinungen wie Lawrence, Breton, Joyce und Céline wirft, ist ein Mißverständnis. Wir wollen lieber versuchen, es mit den Augen eines Patagoniers zu betrachten, für den alles in unserer Welt Geheiligte und Tabuierte bedeutungslos ist. Denn das Abenteuer, das den Verfasser zu den geistigen Endpunkten der Erde geführt hat, ist die Geschichte jedes Künstlers, der, um sich selbst auszudrücken, das ungreifbare Netzwerk seiner Phantasiewelt durchqueren muß. Die Luftlöcher, die Alkaliwüsten, die zerfallenden Monumente, die verwesenden Leichen, der verrückte Gigue- und Madentanz, all das bildet ein großes Fresko unserer Epoche, das mit zerstörerischer Sprachgewalt und lauten, schrillen Hammerschlägen ausgeführt ist.
    Wenn sich hier eine Fähigkeit offenbart, zu schockieren und die Leblosen aus ihrem tiefen Schlaf zu schrecken, so wollen wir uns dazu beglückwünschen: denn die Tragödie unserer Welt besteht gerade darin, daß nichts mehr imstande ist, sie aus ihrer Lethargie aufzuscheuchen. Es gibt keine heftigen Träume mehr, keine Erquickung, kein Erwachen. In der Betäubung, die die Selbsterkenntnis erzeugt hat, gehen Leben und Kunst dahin und entgleiten uns. Wir treiben mit der Zeit und kämpfen gegen Schatten. Wir brauchen eine Blutübertragung.
    Und was uns hier geboten wird, ist Fleisch und Blut. Essen, Trinken, Lachen, Begehren, Leidenschaft und Neugier, die schlichten Wirklichkeiten, die den Wurzeln unserer
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