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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses
Autoren: Henry Miller
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oder ihm den Kopf abschlagen.
    Es gibt Menschen, die der Versuchung nicht widerstehen können, in einen Käfig mit wilden Bestien hineinzugehen und sich zerfleischen zu lassen. Sie gehen sogar ohne Revolver oder Peitsche hinein. Die Furcht macht sie furchtlos … Für den Juden ist die Welt ein mit wilden Bestien gefüllter Käfig. Die Tür ist zugesperrt, und er steht da ohne Peitsche oder Revolver. Sein Mut ist so groß, daß er den Dung in der Ecke nicht einmal riecht. Die Zuschauer applaudieren, aber er hört es nicht. Das Drama, denkt er, spielt sich im Käfig ab. Der Käfig, denkt er, ist die Welt. Wie er allein und hilflos dasteht bei verschlossener Tür, findet er, daß die Löwen seine Sprache nicht verstehen. Nicht ein Löwe hat je von Spinoza gehört. Spinoza? Sie können nicht einmal ihre Zähne in ihn schlagen. «Gib uns Fleisch!» brüllen sie, während er dasteht, versteinert, seine Ideen eingefroren, seine Weltanschauung ein Trapez außer Reichweite. Ein einziger Hieb mit der Löwentatze, und sein Weltbild ist zerschmettert.
    Die Löwen sind ebenfalls enttäuscht. Sie erwarteten Blut, Knochen, Knorpeln, Sehnen. Sie kauen und kauen, aber die Worte sind Chicle , und Chicle ist unverdaulich. Es ist ein Grundstoff, den man mit einer Schicht Zucker, Pepsin, Thymian, Lakritze überzieht. Chicle ist okay, wenn ihn Chicleros gesammelt haben. Die Chicleros kamen über die Landbrücke eines versunkenen Kontinents herein. Sie brachten eine algebraische Sprache mit. In der Wüste von Arizona begegneten sie den wie Auberginen glänzenden Mongolen des Nordens, kurz nachdem die Erde in ihrer Kreiselbewegung eine Neigung gemacht hatte, als die Wege des Golfstroms und der japanischen Meeresströmung sich teilten. Im Erdinnern fanden sie Tuffstein. Sie bestickten sogar noch die Eingeweide der Erde mit ihrer Sprache. Sie aßen einer des anderen Innereien, und die Wälder schlossen sich über ihnen, über ihren Gebeinen und ihren Schädeln samt ihren Tuffstein-Spitzen. Ihre Sprache ging verloren. Da und dort findet man noch die Überbleibsel einer Menagerie, eine mit Zeichen bedeckte Hirnschale.
    Was hat das alles mit dir zu tun, Moldorf? Das Wort ist in deinem Munde Anarchie. Sprich es aus, Moldorf, ich warte darauf. Niemand kennt die Ströme, die durch unseren Schweiß pulsen, wenn wir uns die Hände schütteln. Während du deine Worte wählst, mit halbgeöffneten Lippen, wobei Speichel hinter deinen Wangen gurgelt, bin ich mit einem Sprung über halb Asien weg. Wenn ich deinen Stock, zweitklassig wie er ist, ergreifen und dir ein kleines Loch in die Seite stoßen würde, könnte ich genug Material sammeln, um das Britische Museum damit zu füllen. Wir stehen fünf Minuten beisammen und verschlingen Jahrhunderte. Du bist das Sieb, durch das sich meine Anarchie zwängt, sich in Worte auflöst. Hinter dem Wort steht das Chaos. Jedes Wort ist ein Band, ein Gitterstab, aber es gibt nicht genug Stäbe und wird nie genug geben, um ein Gitter zu bilden.
    In meiner Abwesenheit wurden Vorhänge an die Fenster gehängt. Sie sehen aus wie in Lysol getauchte Tiroler Tischtücher. Das Zimmer funkelt. Ich sitze betäubt auf meinem Bett und denke über den Menschen vor seiner Geburt nach. Plötzlich beginnen Glocken zu läuten, eine geisterhafte, unirdische Musik, als wäre ich in die Steppen Zentralasiens versetzt. Manche klingen aus mit langem, nachhallendem Schlag, manche dröhnen trunken, rührselig. Und nun ist es wieder still, außer einem letzten Ton, der kaum die Nachtstille streift – nur eben ein ferner, heller Gong, ausgelöscht wie eine Flamme.
    Ich habe mit mir einen stillschweigenden Vertrag abgeschlossen, von dem, was ich schreibe, keine Zeile zu ändern. Ich habe kein Interesse daran, meine Gedanken zu vervollkommnen, so wenig wie meine Handlungen. Der Vollkommenheit Turgenjews stelle ich die Vollkommenheit Dostojewskis gegenüber. (Gibt es etwas Vollkommeneres als Der ewige Gatte ?) Hier haben wir in ein und derselben Kunstform zwei Arten von Vollkommenheit. Aber in den Briefen van Goghs ist eine über beide hinausgehende Vollkommenheit. Es ist der Triumph des Individuums über die Kunst.
    Nur eines interessiert mich nun wesentlich, nämlich alles das aufzuzeichnen, was in Büchern weggelassen wird. Niemand macht, soweit ich sehen kann, Gebrauch von den in der Luft liegenden Elementen, die unserem Leben Richtung und Antrieb verleihen. Nur die Totschläger scheinen aus dem Leben in einigermaßen befriedigender Weise
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