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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses
Autoren: Henry Miller
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höchsten und unbestimmtesten Schöpfungen Nahrung geben. Der Überbau ist weggeschlagen. Dieses Buch führt einen Wind mit sich, der die toten und hohlen Bäume umbläst, deren welke Wurzeln im unfruchtbaren Boden unserer Zeit verdorrt sind. Dieses Buch dringt bis zu den Wurzeln vor und gräbt tiefer, gräbt nach unterirdischen Quellen.
     
    ANAÏS NIN
    1934

Wendekreis des Krebses

 
     
     
    An die Stelle von Romanen
    werden schließlich Tagebücher oder Autobiographien treten – faszinierende Bücher, wenn ein Mann es nur versteht, aus dem, was er für seine Erfahrungen hält, das auszuwählen, was wirklich seine Erfahrung ist, und die Wahrheit wahrheitsgemäß aufzuzeichnen.
     
    Ralph Waldo Emerson

I ch wohne in der Villa Borghese. Hier ist nirgendwo eine Spur von Schmutz; kein Stuhl, der nicht an seinem Platz steht. Wir sind hier ganz allein und wie Tote.
    Gestern abend entdeckte Boris, daß er verlaust war. Ich mußte seine Achselhöhlen ausrasieren, und selbst dann hörte das Jucken nicht auf. Wie kann man an einem so schönen Ort verlausen? Aber wie dem auch immer sei, jedenfalls wären wir wohl nie so intim geworden, Boris und ich, hätte es nicht diese Läuse gegeben.
    Boris hat mir soeben eine Zusammenfassung seiner Ansichten gegeben. Er ist ein Wetterprophet. Das Wetter wird schlecht bleiben, sagt er. Es wird mehr Elend, mehr Tod, mehr Verzweiflung geben. Nirgends das geringste Anzeichen einer Änderung. Der Krebsschaden der Zeit frißt uns auf. Unsere Helden haben sich umgebracht oder bringen sich um. Der Held ist also nicht die Zeit, sondern die Zeitlosigkeit. Wir müssen im Schritt, im Stechschritt dem Gefängnis des Todes entgegenmarschieren. Es gibt kein Entrinnen. Das Wetter ändert sich nicht.
    Jetzt ist es Herbst, und ich bin das zweite Jahr in Paris. Ich wurde hierhergeschickt aus einem Grunde, den ich noch nicht klar erkannt habe.
    Ich habe kein Geld, keine Zuflucht, keine Hoffnungen. Ich bin der glücklichste Mensch der Welt. Vor einem Jahr, vor sechs Monaten dachte ich noch, ich sei ein Künstler. Jetzt denke ich nicht mehr darüber nach, ich bin einer. Alles, was Literatur war, ist von mir abgefallen. Es gibt keine Bücher mehr, die geschrieben werden müßten, Gott sei Dank.
    Und dies hier? Dies ist kein Buch. Dies ist Schmähung, Verleumdung, Diffamierung eines Charakters. Dies ist kein Buch im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Nein, dies ist eine fortwährende Beleidigung, ein Maulvoll Spucke ins Gesicht der Kunst, ein Fußtritt für Gott, Menschheit, Schicksal, Zeit, Liebe, Schönheit … was man will. Ich werde für euch singen, vielleicht ein bißchen falsch, aber ich will singen. Ich will singen, während ihr verröchelt, will über eurem schmutzigen Leichnam tanzen …
    Um zu singen, mußt du zuerst den Mund auftun. Du mußt zwei Lungen haben und ein bißchen was von Musik verstehen. Ein Akkordeon oder eine Gitarre sind dazu nicht nötig. Hauptsache ist, daß man singen will . Dies ist also ein Gesang. Ich singe.
    Für dich, Tania, singe ich. Ich wünschte, ich könnte besser singen, melodischer, aber dann hättest du mich vielleicht niemals angehört. Du hast andere singen hören, und sie ließen dich kalt. Sie sangen zu schön – oder nicht schön genug.
    Es ist der x-undzwanzigste Oktober. Ich kümmere mich nicht mehr um das Datum. Sagt man denn: mein Traum vom letzten 14. November? Es gibt Zwischenzeiten, aber sie liegen zwischen Träumen und hinterlassen nichts in unserem Bewußtsein. Die Welt um mich löst sich auf, läßt da und dort Zeitfetzen zurück. Die Welt ist ein Krebs, der sich selbst auffrißt … Ich glaube, wenn das große Schweigen sich auf alles und überall herabsenkt, wird endlich die Musik triumphieren. Wenn alles wieder in den Schoß der Zeit zurückgekehrt ist, wird das Chaos wieder hergestellt sein, und das Chaos ist die Tafel, die mit der Wirklichkeit beschrieben ist. Du, Tania, bist mein Chaos. Und darum singe ich. Ich bin es nicht einmal, es ist die sterbende Welt, die die Haut der Zeit abstreift. Ich lebe noch, rege mich in deinem Schoß, einer Wirklichkeit, die beschrieben werden kann.
    Hindämmern. Die Physiologie der Liebe. Der Wal mit seinem im Ruhezustand sechs Fuß langen Penis. Die Fledermaus – penis libre . Tiere mit einem Knochen im Penis. Daher: hart wie ein Knochen. «Zum Glück», sagt Gourmont, «ist die Knochenversteifung beim Menschen weggefallen.» Zum Glück? Ja, zum Glück. Man stelle sich die Menschheit vor, wie sie mit einem
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