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Weit weg ... nach Hause

Titel: Weit weg ... nach Hause
Autoren: dtv
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zerfaserte
     Seile. Den Rest verschluckt die Dunkelheit, aber nichts deutet auf wilde Bestien, Ungeheuer oder fette Ratten. Vorsichtig
     schließt sie die Klappe. Finsternis. Sie tastet sich die Treppe hinunter, setzt mit Bedacht Fuß vor Fuß Richtung Kiste. Düster,
     feucht, hohl und hallig, begleitet von Geräuschen durch das wild an die Bordwand schlagende Wasser, stößt Luisa endlich an
     einen Gegenstand. Die Welt klingt anders hier unten, viele Laute kann Luisa überhaupt nicht zuordnen. Sie schwingt sich auf
     eine der beiden Kisten. Wartet. Schaut auf ihre Uhr, die einzige Lichtquelle. Es wird gerade 11   Uhr. In einer halben Stunde wollte der Kapitän zurück sein. In einer halben Stunde geht es los. Erst wenn sie die Motoren
     des Schiffes hört, erst dann kann sie sich sicher fühlen. Sie beginnt zu frieren. Ihr Bein schmerzt wieder. Mist, sie hat
     die Wundcreme vergessen. Aber im Dunkeln kann sie sowieso nichts sehen, wüsste gar nicht, wo sie diehinschmieren sollte. Überall schwarze Luft! Das Zifferblatt der Uhr leuchtet leise vor sich hin. Elf Uhr und fünf Minuten.
     Luisa hält die Uhr an ihr Ohr und hört nichts. Mit zunehmender Verbissenheit starrt sie auf die Zeiger: Nach einer Unendlichkeit
     zeigt die Uhr elf Uhr sechs. Die dumpfen Geräusche klingen bedrohlich. Sie versucht, sich etwas Schönes vorzustellen, etwas
     Warmes, damit das Frieren aufhört.
    »Mach dir warme Gedanken!«, hat die Großmutter immer gesagt und dann den frierenden Kindern, die im Sommer zu lange im kalten
     See geschwommen sind oder im Winter ohne Handschuhe Schneemänner gebaut haben, Geschichten von Sonnenfeen erzählt. Während
     sie in Wolldecken gemummelt heißen Tee schlürften und spürten, wie die Wärme in ihre Arme und Beine zurückkehrte, träumten
     sie mit offenen Augen von zarten, beflügelten Wesen, die aus einem glitzernden Säckchen den Körper mit einem goldenen Pulver
     bestreuten und alle Kinder sogar im tiefsten Schnee wärmten.
    Aber die Feen erscheinen nicht und auch die Wärme ist nicht spürbar. Ein anderes Gefühl, das sie allzu gut kennt, schleicht
     sich in ihr Herz: Einsamkeit.
    Wie lange muss sie wohl in der dunklen Höhle durchhalten? Sie hat keine Ahnung, wie lange die Fahrt von hier bis in die Schweiz
     dauert. Und wenn sie seekrank wird von dem Geschaukel?
    Luisa zittert, ihre Zähne schlagen aufeinander. Es ist elf Uhr 25.   In fünf Minuten wird der Kapitän ablegen. Sie tröstet sich: Alles ist besser als zu Hause oder in der Schule, alles ist besser
     als die Klassenfahrt. Sie möchte nur endlich aufhören zu frieren.
    Nicht fünf, sondern zwanzig Minuten später hört Luisa neue Geräusche und Stimmen an Deck. Der Kapitän spricht mit dem Jungen,
     dann entfernen sich stampfende Schritte. Von Weitem ertönt ein Ruf. Direkt über ihrem Kopf klatscht etwas auf den Boden: Vielleicht
     löst der Junge die Seile, die das Schiff an der Mauer halten.
    Die Motoren werden hochgefahren, es ist so weit: Das Schiff legt ab! Endlich!
    Das Zittern lässt nach, Luisa reibt die Hände aneinander. Ihr Kopf ist glühend heiß, aber das wird die Aufregung sein.
    Die Uhr zeigt eine Minute vor zwölf, sie hat es geschafft.
    Ihre Flucht in den Süden beginnt.

Blinde Passagierin
    Dumpf rumort der Schiffsmotor. Luisa stellt sich vor, wie der Bug durch das braune Rheinwasser pflügt. Sie sitzt genau in
     der Spitze, nur die dünne Schiffswand trennt sie vom reißenden Strom. Sie sehnt sich auf den schönen Platz der Kasperlefigur:
     Dort an Deck würde sie als Erste Fische, Bojen und Treibgut entdecken. Irrsinnig viel Zeug treibt bei Hochwasser auf dem Fluss.
     Luisa hat von der Brücke aus ganze Baumstämme, herausgerissene Büsche, Plastikplanen und Flaschen und sogar ein rotes Bobbycar
     gesehen. Es vollführte einen Tanz auf den Wellen, der Gewalt des Wassers ausgeliefert. Erst jetzt denkt Luisa an das Kind,
     das vielleicht damit herumgefahren ist. Hoffentlich ist es nicht ertrunken!
    Luisa hat keine Angst vor dem Tod. Sie stellt sichden Himmel wie den Paradiesgarten aus der Bibel vor, mit Adam und Eva, in trauter Gemeinsamkeit mit allen Tieren, mit üppigen
     Obstbäumen und Kletterpflanzen, die an Eisentoren emporranken. Zypressen, Palmen und Olivenhaine spenden den Seelen Schatten,
     die engelgleich mit glücklichem Lächeln durch die Gärten spazieren, zu zweit, zu dritt, und freudvoll zugewandt miteinander
     lachen und plaudern. Einmal hat sie für einen kurzen Moment überlegt, dass es
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