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Weit weg ... nach Hause

Titel: Weit weg ... nach Hause
Autoren: dtv
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den Fenstern, aber in den Häusern auf der anderen Straßenseite brennt vereinzelt schon Licht. Kein
     Mensch ist zu sehen. Luisa schaut auf die Straße. Niemand ist unterwegs. Gegenüber, bei Familie Gök, läuft der Fernseher –
     wie jeden Morgen. Blaues Licht blinkt durch die dünnen Gardinen. Weiß schimmern die Dächer. Die Luft ist kalt. Luisa spürt
     den kühlen Hauch, der vom Fenster abstrahlt, an ihren nackten Armen.
    »Luisa, wo bleibst du? Es ist Viertel nach sieben«, ruft Katja aus der Küche.
    »Ich komm gleich!«
    Luisa geht zum Kleiderschrank. Wo ist denn das blaue T-Shirt mit dem Blumenmuster? Das möchte sie heute bei der eisigen Kälte anziehen.Sie möchte sich an die letzten Ferien und die Wärme auf Mallorca erinnern.
    »Luisa!« Scharf wie eine Rasierklinge streift Katjas Stimme ihr Ohr.
    »Jaaa! Ich komme!«, ruft Luisa zurück und zieht das blaue T-Shirt aus dem Schrank. Sechs weitere fallen auf den Boden. Als Luisa sie vorsichtig hochheben will, rutschen sie in alle Richtungen
     weg. Vorher noch ein ordentlicher Stapel, fliegen sie wie ein Mückenschwarm zu Boden und lösen sich aus ihrer gefalteten Form.
     Ein chaotischer Haufen Baumwollstoff liegt vor ihren Füßen.
    »Luisa, jetzt reicht’s! Brauchst du ’ne schriftliche Einladung für’s Frühstück?«, wütend steht die Mutter in der Tür.
    Sie hat ihre Haare zu einem wurstigen Etwas auf dem Kopf zusammengefriemelt und trägt Trainingshose, dicke Wollsocken und
     eine ausgeleierte Strickjacke. Eine blasse Frau mit Brille und zwei strengen Falten, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln
     laufen. Die Lippen wirken ohne den üblichen Lippenstift blutleer.
    So kann sie auch aussehen, meine Mutter, denkt Luisa und schaut in das zornige Gesicht. Die Hexen zur Walpurgisnacht können
     nicht furchterregendergewesen sein. Aber Luisa kennt ja diesen Gesichtsausdruck zur Genüge, steht ihm seelenruhig gegenüber und lässt das Gezeter
     an sich abprallen. Die Mutter hört sich gern reden und ist schnell in einem ihrer Grundsatzvorträge. Irgendwann reicht Luisa
     das nicht enden wollende Gemaule dann doch.
    »Nerv mich nicht!«, antwortet sie frech. »Du hetzt mich schon wieder. Schließlich werde ich mich wohl noch in Ruhe anziehen
     dürfen, oder?«
    »Ich hetz dich! Du kommst doch nicht aus dem Quark! Jetzt bist du schon eine Dreiviertelstunde wach und hast gerade mal Zähne
     geputzt.«
    »Na und? Es ist immer noch früh genug!«
    »Ist es nicht! Ich will, dass du was isst, bevor du zur Schule fährst!«
    »Dafür ist auch noch Zeit!«
    »Kannst du mal aufhören, mir ständig zu widersprechen? Du gehst mir auf den Wecker, Luisa! Mach jetzt voran, sonst ist dein
     Bus weg. Und ich fahr dich nicht wieder zur Schule.«
    »Jajajaja!« Die Sätze wiederholen sich seit Jahren. Sie häufen sich, seitdem sich Katjas schlechte Stimmungen häufen.
    Luisa zieht ihren pinkfarbenen Gürtel durch die Rockschlaufen. Zum Glück hat Katja den T-Shirt -Haufenauf dem Boden nicht gesehen, sonst hätte es gleich die nächste Predigt gegeben.
    Eigentlich dachte Luisa, das Gemecker wäre ihr mittlerweile egal. Aber offensichtlich ist sie noch nicht abgestumpft! Katja
     wird aber auch immer gleich laut. Schauspielerin eben! Jeder Text eine Szene! Pausenlos auf der Bühne, pausenlos öffentlich:
     ›Man muss die letzte Zuschauerreihe erreichen!‹ Aber zu Hause gibt es keine Zuschauer, das scheint die Mutter manchmal zu
     vergessen. Außerdem werden ihre Szenen in letzter Zeit heftiger. Einmal am Tag steht sie schreiend in irgendeiner Tür. Entweder
     kriegt Luisa eine Standpauke oder seltener ihr jüngerer Bruder Carlo. Früher hat es Thomas auch schon mal erwischt, aber der
     Vater kommt mittlerweile immer später nach Hause, dann schläft Luisa meistens schon. Warum arbeitet Thomas so viel und Katja
     so wenig? Oder kommt der Vater absichtlich später, weil er Katjas schlechte Laune nicht erträgt?
    Luisa schaut nachdenklich aus dem Fenster und bürstet ihre Locken. Sie sieht Frau Gök am Esstisch, sie schmiert Brote und
     schneidet Äpfel. Ihr Kopftuch liegt ordentlich zusammengefaltet über der Stuhllehne, ihr schwarzes Haar fällt meterlang auf
     ihren Rücken und glänzt wie Seide. Jetzt packtsie das Butterbrot in eine Tüte, gibt es der jüngsten Tocher, nimmt deren Kopf in beide Hände und küsst sie auf die Stirn.
     Özlem kommt aus dem Flur ins Wohnzimmer. Sie ist die Älteste der vier Geschwister und war mit Luisa in einer Grundschulklasse.
    
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