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Stahlhexen

Stahlhexen

Titel: Stahlhexen
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Montagmorgen
    Tom Fletcher erhielt den Anruf frühmorgens um 5.52 Uhr. Im Lichtkegel der Straßenlaterne vor dem Fenster sah er den Schnee in dicken, schweren Flocken fallen. Er wollte gerade zum Joggen aufbrechen und hatte mit einem Anruf nicht gerechnet, doch innerhalb von zwei Sekunden war er beim Telefon auf seinem Schreibtisch. Das hatte den Anrufer wohl überrumpelt, denn er schwieg erst einmal. Seine Rufnummer wurde nicht angezeigt, aber Fletcher konnte ihn hören: Jemand atmete und im Hintergrund waren Verkehrsgeräusche zu erkennen.
    Fletcher zuckte die Schultern und wollte auflegen.
    Da sagte eine Männerstimme: »Tom?« Fletcher erstarrte. Die Stimme hatte sich verändert, sie war gealtert, aber dennoch unverkennbar. »Ich bin's, Tom.«
    »Dad?« Das Wort kam kühl heraus - er hatte es lange nicht mehr verwendet.
    »Wir müssen ihn töten, Tom«, sagte die Stimme. Störgeräusche, ein Knistern in der Leitung.
    »Dad, wovon redest du?«
    Ein langes Schweigen, auch jetzt wieder leiser Verkehrslärm im Hintergrund.
    »Er ist da hingegangen, es liegt westlich der alten Eisenbahngleise. In der Nähe eines alten Steinbruchs oder so. Wir müssen ihn töten.«
    Wieder die Verkehrsgeräusche. Dann wurde aufgelegt.
    Fletcher sah auf das schnurlose Mobilteil in seiner Hand, das erleuchtete Display zitterte im Dunkeln ganz leicht. Er schaltete das Telefon auf laut und hörte sich den Mit-
    7schnitt des Gesprächs an. Und dann noch zwei weitere Male.
    So ein Anruf hätte jeden geschafft. Aber für Fletcher war es nicht nur das. Nicht nur der Inhalt des Gesprächs - es war vor allem der Anruf an sich. Zum ersten Mal seit achtzehn Jahren hatte er wieder mit seinem Vater geredet.
    Achtzehn Jahre, und plötzlich ruft er mich an. Und will, dass ich jemanden töte?
    Was ist da eigentlich los ?
    Gedankenverloren schloss er die Wohnungstür hinter sich ab, noch immer ganz mit dem Vorfall beschäftigt. Auch das Treppenhaus, das er hinunterging, nahm er kaum wahr. Die Kälte auf der Green Street traf ihn unvermittelt. Er blickte sich um. Der Himmel über der Stadt war pechschwarz und die Schneeflocken, dicker als er je welche gesehen hatte, fielen lotrecht zu Boden. Er spürte, wie sein innerer Aufruhr sich allmählich legte und seine Gedanken zur Ruhe kamen.
    Wenn ich jetzt zu diesem Steinbruch fahre, was erwartet mich dort?
    Er sah den Schnee in wahren Kaskaden herabstürzen, an College-Fenstern vorbei und in den Fluss hinein, wo sein Weiß sich im schwarzen Wasser auflöste. Fletcher atmete tief ein und kalte Luft füllte seine Lungen.
    Nachdem er mehrere Landkarten zurate gezogen hatte und eine Weile durch die vereiste Landschaft westlich von Cambridge gefahren war, wurde er um 8.20 Uhr fündig. Ein Steinbruch westlich der Bahngleise am Ende einer kleinen Nebenstraße. Das Armaturenbrett zeigte minus drei Grad Außentemperatur an, die Windschutzscheibe war schneebespritzt und die Waschanlage vereist. Der Himmel hatte sich inzwischen von Pechschwarz zu Stahlblau aufgehellt und ein Halbmond stand tief am Horizont und würde gleich untergehen. Die Gegend selbst wirkte fast wie eine Mondlandschaft: große, gepflügte Äcker, weiß überfroren und
     

nur teilweise von Schnee bedeckt. Der Feldweg führte zwischen dem geschotterten Bahndamm eines aufgegebenen Bahngleises und den Drainagekanälen des Great North Fen an bewirtschafteten Feldern vorbei. Auf der Landkarte war ein Stück weiter vorn - unmittelbar hinter der nächsten Kurve - eine stillgelegte Kiesgrube eingezeichnet.
    Die kleine Nebenstraße wurde immer schmaler und holpriger. Fletcher rechnete als Nächstes mit einem einfachen, matschigen Feldweg, stieß stattdessen jedoch auf eine frisch geteerte Straße, die zwar überwiegend zugeschneit war, aber dort, wo sie in letzter Zeit befahren wurde, die hübsche Farbe eines blauen Flecks aufwies. Fletcher bog um die Kurve und hielt.
    Er stand vor einer teilweise verbogenen Stahlschranke, die von Schnee überpudert war, den der Wind in kleinen Schneestaubwölkchen in die Luft fegte. Hinter der Schranke sah man nichts als grauen Himmel. Fletcher stieg aus, den Parka über den Joggingklamotten, und seine Joggingschuhe knirschten im Schnee. Er ging die paar Schritte bis zur Schranke.
    Das hier war es offensichtlich, was immer sein Vater auch gemeint hatte.
    Die Schranke sperrte eine tiefe quadratische Grube ab, die etwa einen halben Kilometer im Durchmesser hatte und drei Stockwerke tief war. Die Wände führten in mehr oder
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