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Weit weg ... nach Hause

Titel: Weit weg ... nach Hause
Autoren: dtv
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»Megadämlich!«
    Die Wörter prallen wie ein Echo von den Wänden ab, scheppern durch die Räume. Alle Türen sind geschlossen, der Flur ein fensterloser
     Tunnel. »Megadämlich!« Luisa drückt die Hände auf die Ohren, aber die Wörter werden nicht leiser. »Zu blöde!« Eine Hitze wie
     in der Wüste. Ihre Haare kleben auf der Stirn. Sie muss weg, ins Kühle, Kalte, Frische. Oder irgendwohin, wo mehr Platz ist,
     wo die Wörter sich in der Weite verlieren sollen.
    Ihre Turnschuhe quietschen auf dem Steinboden, als sie Stockwerk um Stockwerk die Treppe herunterläuft. Das doppeltürige Holztor
     zum Hinterhof wiegt schwer in den Angeln. Blitzschnell schiebt sie ihr Fahrrad auf die Straße. Es wird immer heißer. Die Wörter
     klingen jetzt leiser, aber es scheinen unendlich viele. Geflüstert dringen sie anihr Ohr: »Megadämlich, megadämlich! Zu blöde!« Wie junge Katzen purzeln sie übereinander und bilden ein undurchdringliches
     Knäuel.
    Gelbe Dämpfe steigen aus den Abwasserkanälen. Luisa schwitzt wahnsinnig. Ihre Haare, ihr T-Shirt , alles liegt klatschnass auf ihrem Körper. In kleinen Bächen rinnt ihr der Schweiß den Rücken hinunter. Kein Wunder: Ihr
     Rad hat sieben Gänge und sie tritt in die Pedale, als wolle sie das gelbe Trikot holen. Weg, nur weg!
    Die Allee mit den alten Linden hat sie bereits hinter sich gelassen, jetzt erreicht sie den Fasanenplatz. Eine Frau in Hausschuhen
     füttert Spatzen. Um diese Uhrzeit! Ist es eigentlich früh oder spät? Luisa rast über die Bodenschwellen, fährt Zickzack um
     die Ausbuchtungen mit den Blumenbeeten. Kein Auto, kein Motorrad. Niemand kreuzt ihren Weg. Plötzlich steht die Sonne hoch
     am Himmel und strahlt erbarmungslos. Der Schweiß rinnt ihr in die Augen und brennt. Sie wischt die Tropfen aus den Brauen.
     Jetzt hat sie den Rosenpark erreicht: keine Mütter mit Kindern, keine Hundebesitzer, keine Obdachlosen. In der Ferne pfeift
     ein Zug. Die Wörter wachsen wieder, werden lauter und nisten sich ein – in den Ohren, hinter den Schläfen, unter den Haaren.
    Endlich erreicht Luisa den Aufstieg zur Eisenbahnbrücke. Die Fahrrinne ist schmal, und mühsam schiebt sie das Rad nach oben.
     Ein Güterzug mit Waggons voller Autos donnert direkt neben ihr über die Brücke. Luisa mag das leise Zittern und Schwingen
     der Stahlträger. Für einen Moment legt sie die Hand auf das kalte Eisen: Boden, Pfeiler, Geländer – alles vibriert. Die Wörter
     treiben sie weiter, sie steigt auf und fährt wieder los. Sie muss die Wörter abhängen. Einen stillen, kühlen Ort finden.
    Die Brücke scheint endlos lang. Kräftiger Wind bremst ihr Tempo, jetzt hat sie die Mitte erreicht, stoppt plötzlich, steigt
     ab, das Fahrrad rutscht neben dem Geländer zu Boden, als sie sich weit über die Brüstung lehnt. Halbe Bäume, Gestrüpp und
     Plastikkanister treiben auf dem Fluss Richtung Holland. Der Rhein hat Hochwasser und nimmt hemmungslos alles mit, was sich
     ihm in den Weg stellt. Ein Containerschiff passiert die Brücke.
    Auf einem Schiff muss es kühl sein. Luisa streckt die Hand aus, so nah erscheint ihr die Oberseite der riesigen Kästen, die
     dicht nebeneinanderstehen. Viele Boxen!
    In der Ferne nähert sich ein zweiter Frachter, beladen mit feinem, weißem Quarzsand. Der Sandschlepper fährt flussaufwärts.
     Gemächlichwalzt er durch das braune Wasser, Meter um Meter schiebt sich der Bug durch die dreckige Rheinbrühe. In Zeitlupe!
    Ohne Zögern schwingt sich Luisa auf das Geländer, die linke Hand umklammert den Stahlträger. Das Schiff erreicht mit der Bugspitze
     den ersten Brückenpfeiler. Wenn sie sich bücken würde, könnte sie vielleicht in den Sandberg fassen, er scheint zum Greifen
     nah. Luisas Zehen krallen am Handlauf, sie spürt schon den Sand unter den Fußsohlen und   … sie springt.
    Die Luft kühlt ihre Schläfen. Die Sonne ist ein orangefarbener Ball und rundherum herrscht Stille. Stille! Keine donnernden
     Züge, keine hupenden Autos, keine brummenden Schiffsmotoren. Und vor allem keine Wörter.
    Sie fliegt. Sie fällt. Bis sie hart aufprallt.
     
    Luisa stöhnt auf, ihr linker Arm klemmt verdreht unter ihren Rippen, klamm pappen T-Shirt und Haare an ihrem Körper. Ein eisiger Windzug bläst durch das geklappte Fenster. Sie fühlt sich bleischwer und bewegungsunfähig.
     Vorsichtig öffnet sie die Augen: Sie liegt auf dem Fußboden und zittert.
    Da klingelt der Wecker.

Butterblumen und fliederfarbener Klee
    Tiefschwarze Nacht vor
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