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Weit weg ... nach Hause

Titel: Weit weg ... nach Hause
Autoren: dtv
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knatternde Musikbox erinnert, »wat starrst du so auf mein Automobil?
     Möchtest wohl mal ’ne Runde drehen, wat?«
    Luisa lächelt schüchtern: Die Alte macht natürlich einen Scherz, denn schließlich sind beide Vorderreifen platt und der Wagen
     weit entfernt von fahrtüchtig.
    Sie steigt auf den Spaß ein: »Aber sehr weit würde ich nicht damit kommen!«
    »Wo willste denn hin?«, fragt die Frau.
    »Zum Hafen!«, sagt Luisa.
    Die Alte nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarre und verschwindet für eine kurze Sekunde im Nebel.
    »Zum Hafen! Hm! Hm! Darf man fragen, was ein Mädchen um diese Uhrzeit am Hafen sucht?«
    Jetzt ist es so weit: Zeit für die Notlüge.
    »Ich besuche meinen Vater. Er ist Kapitän auf einem großen Frachtschiff.«
    Luisa beginnt unter der Regenjacke mächtig zu schwitzen.
    »Kapitän, der Vater! Hm! Hm!« Die Alte schüttelt den Kopf. »War mein Benno auch. Nu ist er schon zehn Jahre tot. Anderes Thema.
     Aber wat machste denn hier auf der Werft, wenn du den Vater suchst? Der Hafen ist doch zwei Straßen weiter.«
    Nun schießt Luisa die Hitze in den Kopf: Sie wird puterrot. Jetzt hat sie sich verraten. Schnell denken, eine zweite kleine
     Lüge erfinden: »Ja, ich weiß, er hatte gerade keine Zeit, da wollte ich mir die Werft mal anschauen.«
    Die Alte nickt, kaut auf ihrer Zigarre, hebt die Hand und verschwindet in ihren braunkarierten Männerschlappen sang- und klanglos
     hinter der Tür, wie die dicke Frau in einem Wetterhäuschen.
    »Auf Wiedersehen!«, ruft Luisa ihr hinterher, aber das hat sie schon nicht mehr gehört.
    Das war knapp, Luisa atmet erleichtert auf. Wenn die Frau jetzt eine Hausmeistermaschedraufgehabt hätte, was dann? Binnen weniger Minuten wäre die Polizei hier und würde sie einpacken, um sie zu Hause abzuliefern.
     »Unbefugtes Betreten des Werftgeländes«, ein schwerwiegender Vorwurf, ein kolossales Vergehen. Etwas Gutes hatte die Aufregung
     jedoch: Jetzt weiß sie, wo der Hafen ist, nämlich zwei Straßen weiter.
     
    Am rechten Wegrand prangt ein gelbes Blechschild: »Hafengelände. Betreten verboten.« Das nächste Verbot.
    Für den Bruchteil einer Sekunde hat sie Angst, aber ihr Entschluss steht felsenfest!
    Bahnschienen für die Containerzüge führen zum Eingang des Hafengeländes, das Kontrollhäuschen ist zum Glück nicht besetzt.
     Alles ist weitläufig, die Straßen breiter als in der Werft. Links und rechts Lagerhallen, die nur aus Dächern und vereinzelten
     Wänden bestehen, vernagelt mit alten Brettern, durch die der Wind pfeift. Stapel von Holzpaletten türmen sich auf, und überall
     stehen in allen erdenklichen Farben die rechteckigen Container, mit denen die Schiffe aus aller Welt beladen werden. Autos
     parken vor durchnummerierten Bürogebäuden, an denen fremdländisch klingende Namensschilder befestigt sind, aber nirgendssieht man auch nur einen einzigen Menschen. Die Durchfahrten zwischen den Hallen geben zu beiden Seiten den Blick auf das
     Wasser frei.
    Der mächtige Rhein musste hier in ein Kanalsystem gezwängt und eingemauert werden, damit die Schiffe einfahren und laden können.
     Mauern, Treppen, Kräne, Silos, Sand, Kohle, Eisen: eine fremdartige Landschaft.
    Nicht weit entfernt hört Luisa das knarzende Geräusch eines überdimensionalen Krans, der auf Schienen hin- und herfährt und
     mit einem Greifarm einzelne Container packt, um sie auf das Schiff an der Anlegestelle zu hieven. In einem klitzekleinen Häuschen,
     groß wie die Zweipersonen-Kabine der Rheinseilbahn, sitzt ebenso klitzeklein ein Mann, der den Kran steuert.
    Luisa spürt, wie Hitze in ihren Kopf steigt. Leichter Nieselregen setzt ein. Sie schiebt das Fahrrad hinter die Holzpaletten
     unter eine schwere Plastikplane. Dann geht sie zu Fuß weiter. Am ersten Zwischengang biegt sie nach rechts ab zum Wasser.
     Da entdeckt sie unterhalb der Kaimauer ein Schiff, fertig beladen mit Kohle. Sie hört Stimmen, drückt sich an die Mauerecke.
     Zwei Männer steigen die Treppe hinauf, die vom Schiffsrumpf zur Ladeebeneführt. Der Braungebrannte mit der wettergegerbten Haut muss der Kapitän sein, er spricht mit einem anderen, wahrscheinlich
     dem Hafenwart:
    »Die Kohle fahr ich heute in die Schweiz. Ein langes Unternehmen zur Zeit, wenn der Rhein so viel Wasser führt. Die Strömung
     ist an einigen Stellen immens, als würde ich den Montblanc hinauffahren.«
    Luisa hört nur: »Schweiz!« Ihr Herz schlägt wie verrückt. Er fährt in die Schweiz. Was für ein
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