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Weit weg ... nach Hause

Titel: Weit weg ... nach Hause
Autoren: dtv
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Temperatur entscheiden kann. Und tatsächlich pulsiert ihr Blutwie ein reißender Bach durch ihre Adern, dass es ihr fast schwindelig wird. Jetzt nicht schlappmachen! Heute ist der Tag der
     Tage, der letzte Tag vor der Klassenfahrt. Klassenfahrt: Allein bei dem Wort wird ihr schon übel. Ihre Fahrt wird jedenfalls
     eine
Klassefahrt.
    Schnell tauscht sie die Schulbücher gegen ihre Zeichensachen. Der rosafarbene Rucksack beult schon verdächtig aus, der Reißverschluss
     mit den bunten Bändern lässt sich nur noch schwer zuziehen. Ohne Block und Stifte würde sie nie wegfahren, das gehört zu ihr
     wie Arme und Beine. Drei Unterhosen müssen reichen, Socken kann man mehrmals anziehen, schließlich hat sie keine Schweißfüße,
     und ein Ersatz- T-Shirt . Die Cousine kann ihr notfalls was leihen, Karolin hat bestimmt die gleiche Größe, denn sie ist nur ein halbes Jahr älter.
     Auf Karolin freut sich Luisa mindestens genauso sehr wie auf die Tante. Früher waren sie beste Freundinnen, haben in den Ferien
     im Heu geschlafen, sind im Schlauchboot über den See gepaddelt, zogen immer die gleichen Sachen an, weil sie Zwillinge sein
     wollten, machten sich einen Spaß daraus, zusammen und gleichzeitig auf Fragen von Katja oder Freya zu antworten, egal wer
     gemeint war. Das Schwierigste war immer, keineLachkrämpfe zu bekommen. Sie blieben lange völlig ernst, aber sobald die Mütter genervt von dannen zogen, lagen sie sich lachend
     in den Armen.
     
    Das waren die warmen Sommer bei den Großeltern, wenn alle eine Woche gemeinsam am See wohnten. Für die Kinder war es das Paradies.
     Nachmittagelang haben die Mädchen bäuchlings auf dem Steg gelegen, den Fischen zugesehen, Steinchen geworfen, das Tanzen der
     Sonnenstrahlen auf der Wasseroberfläche beobachtet. Bis irgendwann Flori, Marian oder Philippe auftauchten, die wilden Cousins,
     und nichts Besseres im Sinn hatten, als sie mit Kleidern ins Wasser zu werfen.
     
    Katja klopft an ihre Tür, mahnt zur Eile, wie jeden Morgen. Luisa zuckt erschrocken zusammen. Zum Glück ist die Mutter draußen
     geblieben, die Schulbücher liegen noch auf dem Boden verstreut. Luisa versteckt sie ganz unten in ihrem Kleiderschrank, unter
     dem alten Judoanzug.
    Als sie sich um halb acht von Katja verabschiedet, um zur Schule zu gehen, sind ihre Wangen leicht gerötet.
    Luisa holt das Fahrrad aus dem Hinterhof und fährt Richtung Hafen.
    Es ist fast der gleiche Weg, den sie im Traum genommen hat: über die große Straße, in die Allee, an der alten Universität
     vorbei, durch den Park bis zur Rheinuferstraße. Anders als im Traum rollt eine Blechlawine Richtung Stadtzentrum. Luisa steht
     an der Fußgängerampel und wartet auf Grün. Musik dröhnt laut durch die geschlossenen Fensterscheiben der Autos. Die meisten
     Menschen sehen müde aus, rauchen Zigaretten.
    Luisa dagegen ist knallwach. Endlich wird es Grün. Sie überquert die vierspurige Straße, fährt bis zur Brücke, schiebt das
     Rad nach oben, radelt oben weiter. Als sie in der Mitte der Brücke ankommt, hält sie nur einen kurzen Moment an, schaut hinunter
     auf die Schiffe. Das ist gewaltig tief von hier bis zu der Schiffsoberfläche. Sehr tief!
    Kilometerlang erstrecken sich am anderen Ufer zur linken Seite die Wiesen. Ein Grillparadies im Sommer, ein Hundeklo im Winter.
     Rechts aber beginnt gleich das Hafengebiet. Unter den gewaltigen Brückenpfeilern aus Beton parken vereinzelt Autos. In einem
     sitzt ein dicker Mann und schläft mit zurückgelegtem Kopf und offenem Mund.
    Unheimliche Gegend! Niemand geht hier zu Fuß. Sand- und Kieslastwagen brettern durch dieSchlaglöcher der Straße. Eine Böschung steigt steil zur anderen Seite an. Luisa fährt weg von den Wiesen, den LKWs hinterher.
     Sie schwitzt. Staub wirbelt auf, die Lastwagen brausen in hohem Tempo knapp an ihr vorbei. Ein mulmiges Gefühl beschleicht
     sie: Das ist kein Ort für Kinder.
    Zur rechten Seite zweigt eine betonierte Straße ab, die durch ein Tor führt, das man schon lange nicht mehr schließen kann.
     Gras überwuchert die Schiebeschiene, verrostet und verbogen stehen die Stangen des Eisengitters im Wind. Sie folgt der Straße,
     überall gehen staubige Wege ab. Viele der Häuser sind verfallen, Dächer halb abgedeckt, Mauern eingestürzt, Farbe blättert
     von schweren Holztoren. Hinter jeder zweiten Tür verbirgt sich eine Werkstatt. Überall stehen große, mittlere, kleine Boote
     aufgebockt, dazwischen manchmal auch alte Autos.
    Man
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