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Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:

Titel: Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:
Autoren: Carin Gerhardsen
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1964
    S chlaf jetzt, schlaf, beeil dich. Schließ die Augen, lass den Mund ein wenig geöffnet, dann sieht es echt aus. Der Atem sollte langsam und gleichmäßig fließen, auch wenn das Herz wie wild in der Brust hämmert. Aber wenn man muss, dann geht es auch. Er hört die Schritte auf der Treppe, angenehme Schritte mittlerweile, nicht mehr die harten, bösen, wie eben noch, jetzt sind sie versöhnlich und einschmeichelnd. Er hört, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wird – verdammt, es ist einer dieser Tage. Seine Atemzüge sind langgezogen, säuselnd, perfekt. Der Kopf liegt ein wenig schräg auf dem Kissen, Speichel rinnt aus dem Mundwinkel und läuft die Wange hinab. Er muss einen vollkommen entspannten Eindruck hinterlassen, obwohl jeder einzelne Muskel seines Körpers so angespannt ist, dass es schmerzt, aber das kann niemand sehen.
    »Schläfst du, kleiner Mann?«, flüstert die verhasste Stimme in ihrem sanften, zuckersüßen Tonfall. »Ich dachte, wir könnten als Freunde einschlafen, das ist doch immer so schön, nicht wahr?«
    Es scheitert immer an den Augen, man kann die Lider nicht entspannt geschlossen halten.
    »Ich sehe doch, dass du wach bist, deine Augenlider zucken. Mach mir nichts vor, bist du etwa nachtragend? Ich will doch nur dein Bestes, das weißt du doch. Wollen wir uns nicht vertragen?«
    Jetzt kann er die Augen nicht länger geschlossen halten, und er muss den Speichel wegwischen, der ihm mittlerweile ins Ohr gelaufen ist. Und da ist sie, die kalte, knochige Hand mit den langen, schmutzigen Fingernägeln, die unter die Pyjamajacke gleitet. Sein Körper erstarrt, und voller Angst und Ekel starrt er den Mann an, aber dieses verdammte Schwein merkt es nicht. Ein leichtes Zucken im Augenlid entgeht ihm nicht, aber einen ganzen Körper in Aufruhr nimmt er nicht wahr.
    Jetzt klingt Lärm aus der Küche herüber und durch das ganze Haus. Klirrendes Porzellan wird in Schränke geräumt und rasselndes Besteck in Schubladen sortiert. Er zuckt zusammen, als ein Stück der empfindlichen Haut in seinem Nabel für einen Moment hinter einem langen Zeigefingernagel eingeklemmt wird. Der Finger kreiselt eine Weile in seinem Nabel herum – der auf eine unangenehme, fast schmerzhafte Weise in direkter Verbindung mit seinem Unterleib zu stehen scheint –, bevor er sich weiter in seine Schlafanzughose hinunterarbeitet.
    Spätestens an diesem Punkt zieht er es vor, sich von jenem Ort zu verabschieden und sich auf den Fußballplatz oder hinunter zum Badeplatz zu begeben, wo er Kaulquappen fängt. Heute steht er allerdings an den Gleisen und betrachtet die Menschen hinter den Fenstern des vorbeifahrenden Zuges, und aus welchen Gründen auch immer brennt sich ausgerechnet dieses Bild in sein Gedächtnis ein. Es ist weder angenehm noch unangenehm, aber irgendwie wird er es nicht mehr los. Von jetzt an wird er immer neben diesem Zug stehen, wenn er sich in sich selbst zurückzieht, von sich selbst zurückzieht. Aber das ahnt er in diesem Augenblick noch nicht. Die Schienen schreien unter dem heranbrausenden Zug.

September 2007, Freitagabend
    S ie lässt ihn auf dem Teppich vor dem Bett liegen, während sie das Laken wechselt. Er schreit mit einer Stimme, die mittlerweile kaum noch wiederzuerkennen ist, und sein rundes Gesicht ist vor Anstrengung rot angelaufen. Es ist halb elf. Seit vier Stunden versucht sie ihn zum Einschlafen zu bringen. Aber der Hals tut ihm so weh, dass er den Schnuller nicht im Mund behalten mag, und ohne Schnuller ist es aussichtslos. Auch das Paracetamol hilft nicht mehr. Das Schlucken bereitet ihm so starke Schmerzen, dass er kaum mehr isst, und der leere Magen behält das Penizillin nicht bei sich. Sie selbst ist nach drei Tagen so erledigt, dass diese totale Erschöpfung zum Normalzustand geworden ist. Aber nicht ein einziges Mal ist sie laut geworden, kein einziges böses Wort ist ihr über die Lippen gekommen. Es fühlt sich an wie ein Sieg.
    In ihrem Hinterkopf läuft ununterbrochen der Countdown. Sie zählt die Tage, Stunden und Minuten, bis Mats endlich wieder nach Hause kommt. In diesem Augenblick sind es noch genau vier Tage, zehn Stunden und dreißig Minuten. Er ist in Japan auf einem technischen Seminar, und dort gibt es kein GSM , sie kann ihn nicht einmal anrufen, um sich ein wenig aufmuntern zu lassen. Aber vielleicht ist es auch besser so, es würde ihn nur ablenken, wenn er wüsste, wie es um sie steht, und sie selbst würde wahrscheinlich anfangen zu weinen
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