Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer
Autoren: Iny Lorentz
Vom Netzwerk:
Erster Teil
    Der Schatten von Waterloo
    1.
    E ndlich hatte der Regen aufgehört. Aber das war der einzige Lichtblick, fand Walther. Noch immer versank er bis über die Knie in dem Morast, den Tausende Pferdehufe und Soldatenstiefel aufgewühlt hatten. Die schmutzige Brühe rann in seine Stiefel und machte sie so schwer, dass er alle paar Schritte stehen bleiben, sie von den Füßen streifen und ausleeren musste. Am liebsten hätte er sie weggeworfen und wäre barfuß weitermarschiert. Doch neue Stiefel waren unerschwinglich. Er konnte auch nicht einem Gefallenen auf dem Schlachtfeld die Fußbekleidung abnehmen, denn dafür waren seine Füße noch zu klein. Auch brachten die Leichenfledderer, die von ihrer Ausbeute lebten, kurzerhand jeden um, der ihnen die Beute streitig machen wollte.
    »Eins und eins und eins«, murmelte Reint Heurich, der Musketier, der neben Walther marschierte, und jede Eins bedeutete einen Schritt weiter auf die Heere der Franzosen zu.
    Walther graute davor, erneut auf den Feind zu treffen. Erst vor zwei Tagen waren sie mit einem Teil von Napoleons Armee aneinandergeraten und vernichtend geschlagen worden. Ihm erschien es wie ein Wunder, dass es ihren Generälen gelungen war, die eigenen Truppen halbwegs geordnet vom Feind zu lösen und nach Norden zu führen. Dabei hatte ihr Regiment nur gegen das Korps des Marschalls Grouchy kämpfen müssen und nicht gegen den schier unbesiegbaren Kaiser der Franzosen selbst.
    Walther wagte es kaum, an Napoleon zu denken, dessen Truppen seit mehr als zwei Jahrzehnten von Sieg zu Sieg eilten und der die Niederlage bei Leipzig ebenso überstanden hatte wie seine Absetzung und Verbannung nach Elba. Nun suchte der Kaiser der Franzosen mit frischen Truppen den entscheidenden Sieg.
    »Glaubst du, wir werden ihn diesmal schlagen?«, fragte er seinen Kameraden.
    Heurich beendete sein »eins und eins« und sah erstaunt auf ihn herab. »Wen meinst du?«
    »Na ihn, den Korsen!«
    Heurich schneuzte sich so laut, dass es wie ein Trompetenstoß klang, und zuckte mit den Achseln. »Bonaparte also! Wenn ich das wüsste, wäre ich der klügste Mann auf Erden. Ehrlich gesagt glaube ich nicht daran. Seine Soldaten haben uns vorgestern so verdroschen, dass uns jetzt noch die Arschbacken flattern. Als Nächstes wird er die Engländer verhauen. Sind keine guten Soldaten, die Engländer, sage ich dir. Halten es mehr mit dem Stehlen als mit dem Kämpfen. Wenn ihre Braunschweiger und Hannoveraner nicht wären, hätten sie sich längst auf ihre Insel verzogen und sich in wohlfeile Gebete geflüchtet, dass Bonaparte nicht auch zu ihnen vordringt. Und ausgerechnet denen sollen wir jetzt zu Hilfe kommen …
    Aber jetzt los, Junge! Die anderen sind uns schon weit voraus. Du bist unser Trommelbub, und wir wollen dich trommeln hören. Wenn du andauernd zurückbleibst, marschieren wir auf dem Schlachtfeld womöglich noch in die falsche Richtung, nämlich vom Feind weg!«
    Mit einem Lachen half Heurich dem Jungen, seine Stiefel aus einem Schlammloch zu ziehen. Das schmatzende Geräusch erinnerte sie an ihre hungrigen Mägen.
    »Was gäbe ich jetzt alles für ein Stück Brot«, seufzte der Musketier und reichte Walther eine Schnur. »Hier, mein Junge, binde deine Stiefel zusammen und trage sie über der Schulter. Mit bloßen Füßen tust du dich hier leichter, als wenn du die Erde von halb Flandern in deinen Stiefeln mitschleppen musst.«
    Nun musste auch Walther lachen. »Halb Flandern ist es nicht gerade. Aber die Stiefel sind durch den Matsch und das Wasser tatsächlich arg schwer geworden.«
    Er befolgte Heurichs Rat und kam nun besser voran, auch wenn ihn die große Trommel nach wie vor behinderte. Schlimmer noch als dieses unhandliche Ding und die feuchte Kälte war der Hunger, der in seinen Eingeweiden wühlte. Seit sie bei Ligny von den Franzosen zurückgeschlagen worden waren, hatten sie keinen Fouragewagen mehr zu Gesicht bekommen. Das bisschen Brot in seinen Taschen war längst gegessen und, wie Reint Heurich es derb ausdrückte, auch schon verdaut.
    »Warum marschieren wir wieder auf die Franzosen zu, wo sie uns doch vorgestern das Laufen gelehrt haben?«, wollte Walther von dem altgedienten Musketier wissen.
    »Da musst du schon General Gneisenau fragen – oder den Marschall selbst. Ich weiß nur, dass wir uns mit jedem Schritt weiter von unseren Vorratsmagazinen entfernen. Aufzutreiben ist hier auch nichts, denn alles Essbare haben sich schon die Engländer oder die Franzosen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher