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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
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Holunderstab, wälzte seinen schlaffen Körper von sich runter und wankte zu Miriam hinüber, die kraftlos dalag und mit bleichem Gesicht zu ihm aufsah. Er riss ihre Jacke auf und stoppte die Blutung, indem er aus seinen Handschuhen und ihrem Schal einen Pressverband improvisierte. Hinter ihm erstrahlte die Wand nun in eisblauem Licht. Ein zorniges Brausen und Heulen erfüllte die Höhle und er konnte sehen, wie sich aus dem Boden wieder frostige Tentakel schraubten, die ihre Form zu Greifarmen mit spitzen Klauen veränderten.
    »Bring es zu Ende, Andy. Schnell!« Miriam drehte ihren Kopf verbittert in Niklas Richtung. »Du hast ihn doch gehört. Als Stabträger kannst du dir das Opfer aussuchen!«
    Der Morgen dämmerte. Es hatte aufgehört zu schneien. Andreas saß müde auf einer Bank am Perchtensee, genoss die Stille und sah dabei zu, wie ein Sonnenaufgang von unbeschreiblicher Schönheit die Umrisse der Berchtesgadener Alpen zum Erglühen brachte. Die bewaldete Bergwelt sah aus, als sei sie in Watte gepackt worden. Die Sonnenstrahlen fielen nun auf den zugefrorenen See, dessen blütenweiße Fläche sich bis zum anderen Ufer spannte. Lichtblitze flammten in den Eiskristallen auf und jedes kleine Schneeflöckchen reflektierte das Licht in den leuchtenden Farben des Regenbogens. Er hatte ganz vergessen, wie schön seine Heimat sein konnte.
    Langsam erwachte der Ort hinter ihm. Irgendwo bellte ein Hund, und Andreas konnte hören, wie die alte Kirchenglocke Perchtals anschlug und einen neuen Dezembertag einläutete. Das Leben ging weiter. Sie hatten die Kinder der Ortschaft retten können. Doch zu welchem Preis? Sie waren jetzt nur noch zu dritt. Und noch immer fragte sich Andreas, warum Niklas so voller Hass auf sie gewesen war? Was hatten sie ihm bloß angetan? Vermutlich würde er das nie erfahren. Und doch empfand er nur wenig Bedauern für ihn. Niklas war letztlich jenem Schicksal anheimgefallen, das er für sie und alle Kinder des Ortes vorgesehen hatte. Trotzdem beschloss er, ihren dicken Freund so in Erinnerung zu behalten, wie er damals als Teenager gewesen war. Vor jenen schicksalsträchtigen Tagen, damals im Dezember 1994. Andreas wusste, dass er andernfalls verrückt werden würde.
    Hinter ihm knarzte die Schneedecke. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Miriam zu ihm kam. Sie trug ihren verletzten Arm in einer Schlaufe unter der Jacke, wischte den Schnee auf der Bank mit der freien Hand fort und setzte sich zu ihm. Ebenso wie er selbst betrachtete sie nun die im Sonnenlicht glühenden Zacken und Grate der Höhenzüge über ihnen. »Robert bringt die Kleine gerade zu einer Berghütte und wird dann heute Nachmittag die Polizei verständigen. Bis heute Abend sollte sie wieder zu Hause sein.«
    Andreas nickte und sah Miriam bewundernd an. Sie sah blass und müde aus. Das halblange blonde Haar fiel ihr ins Gesicht. Trotz der Verletzung war sie seinem Ratschlag, sich hinzulegen und sich auszuruhen, nicht gefolgt. Immerhin hatte sie es zugelassen, dass er ihre Wunde versorgt hatte. Zu ihrem Glück handelte es sich bei der Verletzung um einen glatten Durchschuss. Niklas Kugel hätte sie schlimmer treffen können. Und er hatte nicht vergessen, mit welcher Todesverachtung sie mit dem Stab in der Hand vor den eisigen Kerker getreten war. Ohne Zweifel hätte sie sich ebenso geopfert, wie es Elke damals getan hatte. Miriam war verdammt tough. Und das gefiel ihm. Sie war schon lange nicht mehr das unsichere Mädchen von damals.
    »Wirst du uns jetzt wieder verlassen?«, fragte sie ihn mit scheelem Blick.
    Andreas starrte eine Weile den Schnee an. »Nein. Ich bin viel zu lange auf der Flucht gewesen. Ich werde hierbleiben und mich diesem Ding stellen. Und wenn ich damit bis an mein Lebensende zubringe.«
    Miriam lächelte schmal. »Sechzehn Jahre. Dann stehen wir vor dem gleichen Problem wie letzte Nacht.«
    »Nein, es wird schlimmer werden. Denn 2026 haben wir keine Wahl mehr.« Er bedachte sie mit einem unheilvollen Blick. »Hast du das nicht gespürt? In jenem Augenblick, als ich Niklas zum Opfer bestimmt hatte, hat sich dieses seltsame Gefühl verflüchtigt. Du weißt schon, dieses … Seelenband, das uns alle aneinander geschmiedet hat. So, als hätten wir erledigt, was uns bestimmt war.«
    »Doch, ich hab das auch gefühlt.« Miriam strich sich unbehaglich die blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Und was glaubst du, was es damit auf sich hat?«
    »Ich glaube, dass wir mit Niklas’ Tod wieder frei
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