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Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
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Prolog
     
     
    Der Engel floh vor dem Licht. Das blonde Haar hing ihm in verschwitzten Strähnen in die Stirn, das himmlische Gewand war eingerissen, und der rechte Flügel hing gebrochen herab. Zitternd vor Angst und Kälte stolperte er im Schneetreiben den Forstweg entlang, während mit blubbernden Geräuschen das Ungetüm nahte, das ihn schon seit einer halben Stunde quer durch die Nacht jagte. Der Engel schluchzte, packte die hinderliche Schwinge im Laufen und riss sie mit einem hässlichen Knacken ab. Es war eine Kraftanstrengung, die ihn vor Erschöpfung stolpern und auf die Schneedecke stürzen ließ. Ein Strom Tränen benetzte seine Wangen, während er sich wieder hoch mühte und nach Atem rang. Die kalte Waldluft schmerzte in seinen Lungen, und die Beine waren ihm inzwischen so schwer wie Wackersteine. Längst hatte der Engel aufgehört zu schreien, denn der dichte Schneefall erstickte seine Rufe. Niemand konnte ihn hören. Dabei wusste er, dass nicht weit entfernt ein Forsthaus stand. Dort würde man ihm helfen. Doch die vielen Bäume schienen sich gegen ihn verschworen zu haben. Granitsäulen gleich standen sie dicht an dicht am Wegesrand, so als wollten sie es verhindern, dass er seinem Verfolger entkam. Im Schein der Lichtfinger, die sich hinter ihm an den Stämmen vorbeizwängten, ähnelten selbst die filigranen Äste des Buschwerks trügerischen, mit Zuckerguss bedeckten Spinnweben, die nur darauflauerten, dass sich der Himmelsbote in ihnen verfing. In diesem Moment wünschte sich der Engel, wirklich über himmlische Kräfte zu gebieten. Denn dann würde er fliegen. Doch er konnte nicht fliegen. Er schaffte es ja nicht einmal zu schreien … Das Ungetüm röhrte triumphierend auf und walzte knirschend auf sein Opfer zu. Im Schneetreiben gemahnte es den Engel an einen gewaltigen schwarzen Schlitten mit runden, grell leuchtenden Laternen über den Kufen, deren Schein ihn erfasste und erbarmungslos aus der Finsternis riss. Geblendet hielt sich der Engel die Hände vor die Augen. Er musste weiter, fort von hier. Starr vor Entsetzen bemerkte er, wie die Silhouette des unheimlichen Gefährts immer größer wurde, bis es unvermittelt zwischen zwei hohen Bäumen zum Stehen kam. Der Rückweg war versperrt.
    Unvermittelt erstarb das blubbernde Geräusch, und eine Stille umfing den Engel, die etwas Lauerndes an sich hatte. Einzig der Wind war noch zu hören, der im Geäst der Bäume säuselte. Der Wind und ein schauderhaftes Geräusch, das wie das Knacken von Klauen klang. Schon drängte eine korpulente und von wirbelnden Schneeflocken umwehte Gestalt in den Lichtschein. Sie war in einen Kapuzenumhang aus blutrotem Stoff gehüllt, der sich fest um den ausladenden Bauch spannte. Weißes Fell umschloss den Saum des Gewandes wie auch die Ränder der Kapuze und die Aufschläge der Ärmel. Der Nikolaus!
    Doch die Gestalt mit dem langen, bis auf die Brust reichenden Bart hatte nichts Tröstliches an sich. Der Engel kniff verängstigt die Augen zusammen und sah, wie sich ein gemeines Grinsen auf dem feisten Gesicht abzeichnete. Ohne zu zögern, marschierte der Gabenbringer auf den Engel zu. Und mit jedem Schritt, den er tat, wuchs auch sein Schatten in die Länge – bis dieser den Himmelsboten erreichte.
    Der Engel schreckte aus seiner Starre, sah sich gehetzt um und entdeckte zwischen den vielen Bäumen endlich das Forsthaus. Gleich einem verwunschenen Hexenhäuschen erhob es sich auf einer von Schlagholz gesäumten Lichtung, die keine drei Steinwürfe von ihm entfernt lag. Die Fenster waren von innen mit Tannengrün und Sternen geschmückt, die in der Ferne um die Wette blinkten. Der Engel warf sich herum und stürzte in das Unterholz. Äste knackten unter seinem Gewicht, Zweige krallten sich in sein Gewand, und dicke Lagen von Schnee stürzten auf ihn herab. Wimmernd riss er sich los, stolperte weiter, schlug mit dem Kopf gegen einen überhängenden Ast und stürzte der Länge nach auf den gefrorenen Waldboden. Bunte Schleier wallten vor seinen Augen. Verzweifelt mühte er sich wieder hoch, taumelte gegen einen Baumstamm, dessen Rinde sich kalt und rissig unter seinen Händen anfühlte, und entdeckte das viele Blut, das ihm von Nase und Lippe troff. Es schmolz rote Löcher in den Schnee.
    »O lieber Herre Christ«, höhnte es vom Hohlweg her, »meine Reise fast zu Ende ist. Ich soll nur noch in diese Stadt, wo’s eitel gute Kinder hat …«
    Der Engel sah erschrocken von dem blutigen Schnee zu seinen Füßen auf.
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