Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weisser Schrecken

Weisser Schrecken

Titel: Weisser Schrecken
Autoren: Thomas Finn
Vom Netzwerk:
die hiesige Kultur der Kelten bis in die Bedeutungslosigkeit. Wichtige archäologische Keltenfunde sind bloß aus der Zeit vor dem Impakt und weit nachher bekannt, ganz im Gegensatz zu allen Randregionen. Die Wissenschaftler nehmen inzwischen an, dass das komplette Gebiet zwischen München und Salzburg für viele Jahrzehnte unbewohnbar war. Bekannt ist auch, dass die Clans damals erstmals um Territorien kämpften, vermutlich, da die Flüchtlinge aus dem Katastrophengebiet nicht überall willkommen waren. Und interessanterweise ist auch erst seit dieser Zeit dokumentiert, dass die Kelten mordend und plündernd über ganz Süd- und Osteuropa herfielen. Und jetzt wird es richtig interessant.« Niklas Augen blitzen. »Dieses kosmische Ereignis führte zu einem grundlegenden Wandel ihrer Religion. Die Kelten verehrten zuvor Naturkräfte, die eher abstrakt dargestellt wurden. All das kann man an archäologischen Funden ablesen. Schmuck, Waffen, Grabbeigaben. Doch ganz plötzlich verehrten sie grausame Götter, die Blutopfer verlangten. Von den keltischen Menschenopfern, von denen auch Cäsar in seinem de hello gallico berichtete, weißt vermutlich sogar du. Sieht man sich dann noch an, wie die Kelten ihre Götter nach dem Impakt darstellten, dann gibt einem das ebenfalls zu denken. Auf den keltischen Kunstwerken tauchen seitdem nämlich schreckliche Fratzen von Menschen verschlingenden Ungeheuern auf. Menschenfresser, verstehst du?« Niklas ließ seine Worte nachwirken. »Vielleicht ahnst du jetzt, mit was wir es zu tun haben? Man muss da ja nur Eins und Eins zusammenzählen. Wenn du also mich fragst, dann stammt dieses fremdartige Ding da unten im Berg nicht aus unserer Welt. Und zwar ebenso wenig, wie jene Macht, die die Kraft besaß, es dort überhaupt einzuschließen. Herrje, wir wissen ja nicht einmal, ob dieses Wesen das einzige seiner Art ist, und ob nicht irgendwo noch weitere von ihnen lauern. Nur eines ist sicher: Die Erinnerung an all diese Schrecken hat bis in unsere heutigen Tage hinein überdauert. Sie wurden von Generation zu Generation in Form von Legenden überliefert und leben bis zum heutigen Tag in unseren Brauchtümern fort. Weitere Spekulationen überlasse ich dir selbst.« Andreas sah seine Freunde sprachlos an und Niklas Stimme troff vor Spott, als er seinen Vortrag schloss. »Und jetzt lasst uns endlich aufbrechen. Knecht Ruprecht erwartet uns. Wie ihr wisst, hat er einen fürchterlichen Hunger auf Kinderfleisch.«
    Andreas hätte sich am liebsten übergeben, so sehr widerte er sich selbst an. Er hielt das kleine Mädchen in den Armen und folgte Niklas und Miriam schweren Herzens durch das Gewirr der Stollen und Spalten in den Berg. Robert hingegen mühte sich hinter ihm mit seiner schweren Ausrüstung ab. Sein alter Kumpel hatte sich wie angekündigt bis an die Zähne bewaffnet und die Kolben der Gewehrläufe auf seinem Rücken schepperten immer wieder gegen den Flüssigkeitsbehälter des Flammwerfers. Andreas achtete kaum auf ihn, denn die Kleine in seinen Armen war schwer und seine Armmuskeln schmerzten. Mit welchem Recht nur verurteilten sie dieses Mädchen zum Tod? War ihr Leben denn wirklich weniger wert als das der anderen Kinder? Andreas wusste auf die Frage immer noch keine Antwort. In seiner Verzweiflung hatte er beschlossen, dass die Kleine seine Bürde sein sollte. Er würde sie bis zum bitteren Ende tragen, so wie dereinst die Verurteilten in Jerusalem ihre eigenen Kreuze zum Ort ihrer Hinrichtung schleppen mussten. Fast wünschte er sich, er würde vor Erschöpfung zusammenbrechen, damit er sich an dem Kind nicht schuldig machen musste. Zugleich wusste er, dass das Schicksal es ihm nicht erlauben würde, sich auf diese Weise davonzustehlen. Die Entscheidung war längst gefallen. Wenn sie dieses unschuldige Kind schon opfern mussten, dann würde er es bis zu seinem letzten Atemzug begleiten und zumindest versuchen, ihm diesen letzten Schritt so erträglich wie möglich zu gestalten. Trost fand er darin nicht. Nur Ekel und Abscheu. Inzwischen stöhnte das Mädchen in unregelmäßigen Abständen. Sie kam langsam wieder zu Bewusstsein. Sobald sie den Perchtenkerker erreicht hatten, würde es an ihm sein, das Mädchen wieder handlungsfähig zu machen. Er trug dazu eine Adrenalinspritze bei sich. Andreas streichelte der Kleinen beruhigend über den Rücken und verachtete sich gleichzeitig für diese verlogene Geste.
    Sie erreichten nun die Bergkammer mit dem hohen Sankt-Nikolaus-Schrein.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher