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Juliet, Naked

Juliet, Naked

Titel: Juliet, Naked
Autoren: Nick Hornby
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    Sie waren von England nach Minneapolis geflogen, um sich ein Klo anzuschauen. Diese schlichte Wahrheit dämmerte Annie erst,
     als sie tatsächlich davorstanden: Abgesehen von den Graffitis an den Wänden, von denen sich einige auf die Bedeutung dieses
     Klos für die Musikgeschichte bezogen, war es feucht, dunkel, verpestet und absolut durchschnittlich. Amerikaner waren wirklich
     Meister darin, das Beste aus ihrem schmalen historischen Erbe herauszuholen, aber hier stießen selbst sie an ihre Grenzen.
    »Hast du die Kamera, Annie?«, fragte Duncan.
    »Ja. Aber was soll ich denn hier fotografieren?«
    »Tja, du weißt schon …«
    »Weiß ich nicht.«
    »Na ja, das Klo.«
    »Wie, die … wie nennt man die Dinger?«
    »Urinale. Ja.«
    »Willst du mit drauf?«
    »Soll ich so tun, als würde ich pinkeln?«
    »Wenn du meinst.«
    Also pflanzte sich Duncan vor dem mittleren der drei Urinale auf, hielt die Hände überzeugend vor seinen Schritt und grinste
     Annie über die Schulter hinweg an.
    »Hast du’s?«
    »Ich bin nicht sicher, ob der Blitz funktioniert hat.«
    »Mach noch eins. Wäre ja blöd, wenn kein vernünftiges Foto rauskommt, nachdem wir so weit gefahren sind.«
    Diesmal stellte sich Duncan bei geöffneter Tür in eine der Kabinen. Aus irgendeinem Grund war das Licht dort besser. Annie
     machte aus dem Motiv Mann und Klo das Bestmögliche. Als Duncan rauskam, konnte sie sehen, dass die Kloschüssel genauso verstopft
     war, wie alle anderen, die sie bislang in Rockclubs gesehen hatte.
    »Na los«, sagte Annie. »Der wollte mich ja erst gar nicht hier reinlassen.«
    Das stimmte. Der Mann hinter der Theke hatte zuerst angenommen, sie wollten sich bloß irgendwo einen Schuss setzen oder Sex
     haben. Empörenderweise war er dann irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass ihnen beides nicht zuzutrauen war.
    Duncan sah sich ein letztes Mal um und schüttelte den Kopf. »Wenn Klos reden könnten, was?«
    Annie war froh, dass zumindest dieses es nicht konnte. Duncan hätte sonst die ganze Nacht mit ihm quatschen wollen.
     
    Die meisten Menschen kennen Tucker Crowes Songs nicht und wissen erst recht nichts über die dunklen Momente seiner Karriere.
     Deshalb ist die Geschichte, was ihm auf dem Klo des Pits Club passiert oder nicht passiert sein könnte, es sicher wert, hier
     noch einmal rekapituliert zu werden. Crowe war anlässlich eines Auftritts in Minneapolis im Pits Club aufgetaucht, um sich
     dort eine Band mit dem Namen Napoleon Solos anzusehen, die ihm empfohlen worden war. (Einige Crowe-Komplettisten wie Duncan
     besitzen sogar die einzige LP dieser Band, The Napoleon Solos Sing Their Songs and Play Their Guitars .) Inder Mitte des Sets ging Tucker zur Toilette. Niemand weiß, was ihm dort widerfahren ist, doch als er wieder herauskam,
     fuhr er schnurstracks zurück ins Hotel und rief seinen Manager an, der den Rest der Tour absagen musste. Am nächsten Morgen
     begann das, was man heute wohl als seinen Ruhestand betrachten muss. Das war im Juni 1986. Seitdem hatte man nichts mehr von
     ihm gehört – keine neuen Aufnahmen, keine Auftritte, keine Interviews. Wenn man Tucker Crowe so verehrte wie Duncan und ein
     paar Tausend andere Leute auf der Welt, dann war dieses Klo nicht so unschuldig wie es aussah. Und da es, wie Duncan richtig
     bemerkt hatte, nicht reden konnte, mussten die Crowe-Fans das an seiner Stelle tun. Einige vertraten die Ansicht, Tucker sei
     darin Gott oder einem seiner Sendboten begegnet; andere behaupteten, er hätte nach einer Überdosis eine Nahtoderfahrung gehabt.
     Eine weitere Sektierergruppe war der Ansicht, er hätte seine Freundin beim Sex mit seinem Bassisten erwischt, eine Theorie,
     die Annie weit hergeholt fand. Konnte der Anblick einer Frau, die in einer Toilette mit einem Musiker fickt, ein zweiundzwanzig
     Jahre langes Schweigen bedingen? Vielleicht kam es Annie auch nur so vor, weil ihr derart heftige Leidenschaften fremd waren.
     Egal. Wie auch immer. Eigentlich musste man nur wissen, dass im kleinsten Raum eines kleinen Clubs etwas so Bedeutsames passiert
     war, dass es ein ganzes Leben verändert hatte.
    Annie und Duncan befanden sich gerade mitten in einer Tucker-Crowe-Pilgertour. Sie waren schon durch New York gezogen und
     hatten sich diverse Clubs und Bars angesehen, die einen Bezug zu Crowe hatten, auch wenn die meisten dieser historischen Stätten
     heute Läden für Designermoden oder McDonald’s-Filialenbeherbergten. Sie hatten sein Elternhaus
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