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Weinrache

Weinrache

Titel: Weinrache
Autoren: S Kronenberg
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und sich beim gemeinsamen Mittagessen wie ein Chamäleon den Tischmanieren der Familie anpasste. Arthurs Großeltern hatten jeden Freund ihres Enkels willkommen geheißen und keine Unterschiede gelten lassen zwischen einem Jungen wie Moritz Fischer als Spross einer angesehenen Familie und Bruno Taschenmacher, für den sich die Stunden im Hause seines Freundes zur Schule für das Leben entwickelten. In der ›Villa Tann‹ hatte Bruno, darin war Lutz sich sicher, als junger Mensch den Entschluss gefasst, wie seine Zukunft aussehen sollte, und sich mit einer Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit auf den Weg gemacht, die Lutz bewunderte. Brunos Startbedingungen waren denkbar schlecht. Bei seiner alkoholkranken Mutter ging das Jugendamt ein und aus; einen Vater gab es nicht.
    Über die Baumkronen glitt ein Vogelschwarm, drehte ab und stieg geschlossen in den Himmel auf wie ein einziges Wesen. Lutz schaute ihm nach, vertieft in seine Erinnerungen.
    Die Bärenzwillinge. Bruno war der andere Zwilling. Bruno, der Bär. Der Name trug vermutlich seinen Teil zur Fantasie der Kinder bei wie auch Arthurs Name, der – wie Lutz von den Jungen eines Tages aufgeregt berichtet wurde – aus dem Keltischen stamme und soviel wie Bär bedeute. Lutz war diese Deutung neu; er hatte sich bei der Auswahl an Schopenhauer orientiert, mit dessen Werken, speziell der Grundlage der Moral, er sich beschäftigte, während Arthurs Mutter schwanger war. Eine These war ihm noch geläufig: Mitleid mit den Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, dass man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein. Warum den guten alten Schopenhauer nicht mal wieder lesen?, nahm Lutz sich vor.
    Im Spiel der Verwandlung zu den Bärenzwillingen erwies sich Bruno als treibende Kraft. Arthur verlor bald das Interesse daran und verhielt sich peinlich berührt, wenn die Erwachsenen darauf anspielten. Bald gerieten die Bärenzwillinge in Vergessenheit wie viele andere Kindereien.
    Und nun dieser Traum. War er die Folge seines unablässigen Grübelns über die Frage, warum in aller Welt man den toten Sohn in einem Bärengehege auffinden musste?
    Immerhin, die Blockade seiner Gedanken war aufgebrochen. Lutz kehrte zum Schreibtisch zurück, nahm ein neues Blatt Papier und formulierte in einem Wurf die Einladungen zum Sektempfang in Brunos neuer Weinstube.
     

38
    Er war wie ein Höhlenmensch kostümiert, trug ein Bärenfell auf der Haut und hatte sich die nackten Arme mit brauner Schminke eingerieben. Oder mit Erde aus seinem Garten. Der Ausdruck seines Gesichts ließ bereits den Ansatz der Idee sterben, den Auftritt als kindisch zu verunglimpfen. Ihre Situation war weit entfernt von jeder Lächerlichkeit. Seine Stimme klang vertraut dunkel und höflich, als sei Norma ein Gast in seinem Restaurant, und er wolle sich nach ihren Wünschen erkundigen.
    »Du darfst dich glücklich schätzen. Nur ausgewählte Menschen dürfen mein Refugium betreten.«
    Sie testete ihre Stimme. »Lässt du deine Haushälterin hier unten putzen?«
    Die Frage löste ein holperndes Gelächter aus. »Was für ein Gedanke! Nein, für sie ist der Keller tabu. Sie kommt niemals hier herunter. Mach dir wegen ihr keine Hoffnungen. Sie wird dich nicht hören, auch wenn du rufst und klopfst. Das habe ich ausprobiert.«
    Als Norma schwieg, trat er einen Schritt näher an das Gitter heran. »Agnieszka war die Erste, die ich mit hinuntergenommen habe. Sie wollte es nicht würdigen. Am Ende unserer Ehe war sie mit nichts mehr zufrieden, musste alles kaputtreden.«
    »Hat sie dich deswegen verlassen?«
    Bruno lächelte hintergründig. »Wie kommst du darauf, dass sie mich verlassen hat?«
    »Aber sie ist doch in ihre Heimat zurückgegangen!«
    Sein Lächeln wurde breiter. »Wie leicht sich die Menschen belügen lassen. Hier glaubt man, sie sei in Polen, und in Polen glaubt man, sie sei hier.«
    Unwillkürlich schaute Norma sich um. »Hast du sie eingesperrt?«
    Bruno nickte, ein wenig betrübt. »Sie wollte nicht freiwillig bleiben. Was sollte ich tun?«
    Norma hielt sich an den Stäben fest. Die Angst kroch ihr erneut den Rücken hinauf. »Wo ist sie, Bruno?«
    Er winkte nach einer unsichtbaren Fliege. »Sie hat ihren Frieden gefunden, so sagt man doch.«
    Norma zwang sich zur Ruhe. Mit fester Stimme verlangte sie, er solle sie hinauslassen.
    »Mach dich nicht lächerlich«, erklärte er schneidend. »Warum sollte ich dich gehen lassen? Ich habe gern
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